Geheime Macht
kein Problem für Anapa gewesen, zehn Minuten lang mit mir zu plaudern und sich eine weiße Weste zu verschaffen. Ich hätte ihn von meiner Liste der Verdächtigen gestrichen und nie wieder behelligt. Stattdessen hatte er seinen Wachtrupp geschickt, um mich zu verjagen. Jetzt blinkten in meinem Kopf sämtliche Alarmleuchten. Wozu die Geheimniskrämerei?
Während meiner Ausbildung hatte mein Ausbilder Shawna, ein ergrauter und vernarbter ehemaliger Ermittler, mich gelehrt, dass man nicht nach Verdächtigen suchen, sondern sie ausschließen sollte. Man stellte eine Liste zusammen, pickte sich den Verdächtigsten heraus und versuchte zu beweisen, dass er es nicht getan hatte.
Bislang war durch dieses Ausschlußverfahren lediglich Bell rausgefallen. Anapa gehörte weiterhin zum Kreis der möglichen Täter, und nun hatte er es geschafft, sich auf Platz eins der Verdächtigenliste zu katapultieren.
Ich betrachtete das Gebäude. Verbarrikadierte Fenster, Überwachungskameras – die nur während einer Technikphase funktionierten –, wenn ich all das als Maßstab nahm, waren die Hauseingänge vermutlich mit sehr guten Wehren gesichert. Als Gestaltwandlerin besaß ich eine natürliche Resistenz gegenüber Wehrzaubern, aber es wäre mit großen Schmerzen verbunden, einen zu durchbrechen. Und dabei würde ich so viel magische Resonanz erzeugen, dass jeder mit mindestens einem Hauch magischer Empfindsamkeit Zeter und Mordio schrie.
Ich ging um das Gebäude herum. Auf der Nordseite gab es im dritten Stock ein kleines Fenster ohne Gitter. Auch die Überwachungskameras waren so positioniert, dass sie andere Bereiche im Auge behielten. Ich blieb eine Weile stehen und beobachtete, wie sie sich drehten. Die Kameras ließen eine Lücke von etwa zwanzig Sekunden, in denen sich jemand dem Haus unbemerkt nähern konnte. Sie hatten eine Falle in ihren Verteidigungsring eingebaut. Ich gluckste leise vor mich hin. Clever. Nicht clever genug, aber ein durchschnittlicher Idiot würde darauf hereinfallen.
Ich musste in Anapas Nähe gelangen. Er weigerte sich, mich zu sehen, sein Haus war gut gesichert, wahrscheinlich sogar durch Fallen, und ich hatte nicht die Verfügungsgewalt, um ihn zu zwingen, mit mir zu reden.
Die Tür ging auf, und der ältere Latino kam heraus, ohne seinen Putzeimer. Er schaute blinzelnd in den Himmel, seufzte mit Leidensmiene und machte sich auf den Weg zur Straße. Ich folgte ihm in diskretem Abstand. Wir liefen nacheinander durch den Torbogen und dann auf den Gehweg, wo ich einen Schritt zulegte und ihn einholte.
»Was kann ich für Sie tun?«
Ich hielt einen Zwanziger hoch. Bist du mit deinen Ermittlungen in eine Sackgasse geraten? Hast du keinen Dienstausweis? Dann biete den Leuten Geld an. So läuft das eben.
»Können Sie mir etwas über Anapa und sein Büro erzählen?«
Der Mann betrachtete die Banknote. »Ich würde Ihr Geld annehmen, aber es gibt nicht viel zu erzählen.«
Ich zeigte auf das kleine Restaurant auf der anderen Straßenseite, über dem ein Schild mit der Aufschrift RISE & SHINE hing. »Es regnet. Ich gebe Ihnen ein Frühstück und eine Tasse Kaffee aus.«
Wir traten ein und nahmen in einer Nische Platz. Die Kellnerin brachte uns heißen Kaffee. Ich bestellte vier Eier und mein neuer Freund ein paar Donuts. Von Würstchen nahmen wir Abstand. Wenn man das Restaurant nicht kannte und dem Koch nicht vertraute, war es eine schlechte Idee, verarbeitetes Fleisch zu bestellen, weil »Rind« in einigen Läden ein Synonym für »Ratte« war.
Wenigstens war der Kaffee frisch.
»Also erzählen Sie mir etwas über Anapa.«
Der Mann zuckte mit den Schultern. »Er ist nicht oft da. Er kommt und geht nach Belieben. Ich bin ihm erst drei- oder viermal begegnet. Guter Anzug.«
»Wo befindet sich sein Büro?«
»Im dritten Stock, auf der Nordseite. Aber da gibt es nicht viel zu sehen. Ich wische einmal pro Woche den Staub von seinem Schreibtisch.«
Interessant. »Was können Sie mir über seine Angestellten sagen?«
Wieder zuckte er mit den Schultern. »Es sind ungefähr zwanzig Leute. Das Ganze ist nur Schein.«
»Wie meinen Sie das?«
»Es ist eine Scheinfirma. Als hätten sich ein paar Kinder zusammengerauft, sich gute Kleidung gekauft und würden so tun, als wären sie Geschäftsleute. Sie sitzen zusammen, sie reden, sie trinken Kaffee und gehen essen. Einmal pro Woche, wenn der Chef aufkreuzt, stellen sich alle vor seinem Büro auf, damit er sich wichtig fühlen kann. Aber es wird nicht
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