Geheime Macht
Du weißt doch, wie hart Raphael arbeitet. Ihr beiden fahrt und macht euch ein paar schöne Tage.«
Raphael starrte grimmig durch die Windschutzscheibe und lenkte den Wagen mit chirurgischer Präzision um Schlaglöcher herum, die die Magie im Asphalt hinterlassen hatte.
Wie? Kein Kommentar?
»Du bist rundum behütet aufgewachsen, und du weißt nicht einmal, wie gut du es gehabt hast. Deine Mutter liebt dich mehr als ihr Leben. Sie zelebriert deine Existenz.« Wenn man bedachte, dass beide Brüder Raphaels während ihrer Kindheit zu Loups geworden waren und B sie hatte töten müssen, konnte ich es ihr nicht einmal verdenken. »Du bist intelligent, attraktiv und respektiert. Du bist ein gefährlicher Kämpfer, und du hast dir Reichtum erarbeitet …«
»Ein gewisses Vermögen«, stieß er durch die zusammengebissenen Zähne hervor.
»Also ein gewisses Vermögen. Die Frauen werfen sich dir zu Füßen. Ich wette, als du deine Verlobte Tante B vorgestellt hast, zuckte sie mit keiner Wimper, während sie jeden anderen sofort aus dem Bouda-Haus geworfen hätte.«
»Gibt es einen bestimmten Grund, warum du meinem Ego schmeicheln willst?«
»Ich schmeichle nicht. Ich nenne nur Fakten, mein Lieber. Du wirst bewundert, Raphael. Du hast alles.«
»Nicht alles«, erwiderte er.
»Alles«, bekräftigte ich. »Wenn du nicht verwöhnt bist, dann weiß ich nicht, wer es ist. Deshalb kannst du dich niemals in meine Lage versetzen. Dein Glück im Leben hat dir Scheuklappen verpasst. Für dich sind Boudas Leute, die glauben, dass du ein Halbgott bist. Für mich sind Boudas Leute, die einem aus Spaß die Knochen brechen.«
Er wandte mir wieder seine dunklen blauen Augen zu. »Dieser Bouda-Clan hat dich niemals schikaniert. Dieses Rudel hat dir angeboten, dich aufzunehmen und zu beschützen. Und du hast das Angebot in den Wind geschlagen.«
Damit standen wir wieder ganz am Anfang.
»Wir sind da«, sagte Raphael. Am Ende der Straße erhob sich ein geräumiges Herrenhaus vor dem Himmel, aus weißem Stein gehauen und mit goldenen Akzenten dekoriert. Sehr hübsch.
Durch ein Tor gelangten wir auf einen Parkplatz, der von einem Angestellten in einem Pförtnerhäuschen mit einer Armbrust bewacht wurde. Wenn wir hier parkten, würden wir in der Falle sitzen.
»Nicht auf dem Parkplatz«, murmelte ich.
»Richtig. Vielleicht müssen wir ganz schnell von hier verschwinden.« Raphael bog in die Nebenstraße ab. Gute Idee. Wenn es nötig wurde, überstürzt aufzubrechen, mussten wir uns nicht erst vom Parkplatz heruntermanövrieren.
Ich zeigte auf eine Ruine. »Es sieht nett und geheimnisvoll aus.«
Er parkte hinter der Ruine und stellte den Motor ab. Der Krach, der ein konstantes Hintergrundgeräusch unseres Gesprächs gewesen war, hörte auf. Einen Moment lang saßen wir wie benommen in der plötzlichen Stille da.
Ich sah ihn an. »Wir kommen immer wieder auf dieses Thema zurück, also sollten wir es ein für alle mal klären, weil ich keine Lust mehr darauf habe. Nehmen wir an, das Bouda-Haus würde angegriffen und in Brand gesetzt, worauf irgendein Ritter des Ordens mich anruft und mich um Hilfe bittet. Deine Mutter würde dir verbieten, dich darum zu kümmern, weil sie dich hier braucht. Dein Clan-Haus liegt in Trümmern. Ich möchte, dass du mich begleitest, um dem Orden zu helfen. Würdest du es tun?«
»Das ist genau der Punkt, den du nicht verstehst.« Raphaels Gesicht zeigte Entschlossenheit. »In einem solchen Fall würde ich meiner Mutter sagen, dass sie mich mal kreuzweise kann. Wer andere zu der Entscheidung zwingt, entweder zu einem zu stehen oder sich um seine Freunde zu kümmern, hat jeden Anspruch auf Loyalität verwirkt.«
Wohl wahr. »Guter Einwand. Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Der Orden war mein Leben, Raphael. Er war mein Rudel, meine Familie. Jeden Tag, an dem ich aufgestanden und zur Arbeit gegangen bin, war ich stolz darauf, ich zu sein, weil ich eine Ritterin war. Ich habe Leuten geholfen. Ich war keine armselige kleine Missgeburt, die von jedem herumgeschubst und geschlagen wurde, wenn jemandem danach war. Dieses Geschöpf wollte ich nicht mehr sein. Vielleicht war es feige, meine Natur als Gestaltwandlerin zu verleugnen und so zu tun, als wäre ich ein Mensch. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich kein Opfer mehr war, als ich Ritterin war. Das war mir sehr wichtig. Verstehst du?«
»Ja«, sagte er.
»Glaubst du, es wäre einfach für mich gewesen? Denn das war es nicht.
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