Geheime Melodie
auf dem Heimweg. Mein Onkel und die Mädchen, alle in ihren schönsten Sonntagskleidern. Sie kamen frisch aus der Kirche, in Gedanken noch ganz bei den Gebeten. Meiner Tante ging es nicht gut, sie war im Bett geblieben. Ein paar junge Männer kamen ihnen entgegen. Mitglieder der Interahamwe von der anderen Seite der Grenze, aus Ruanda, die sich ein bißchen amüsieren wollten. Völlig zugedröhnt. Sie beschimpften meinen Onkel als Tutsi-Spion, schnitten den Mädchen die Sehnen durch, vergewaltigten sie, warfen sie in den Fluß und ließen sie ertrinken. Und dabei riefen sie Butter! Butter! Das sollte heißen, daß sie alle Tutsis zu Butter stampfen wollten.
»Was haben sie mit deinem Onkel gemacht?« frage ich. Sie hat den Kopf abgewendet.
Ihn an einen Baum gefesselt. Ihn gezwungen, es mit anzusehen. Ihn am Leben gelassen, damit er es im Dorf erz ählt.
Im Gegenzug erz ähle ich ihr von meinem Vater und seinen Auspeitschungen. Das habe ich außer Pater Michael noch nie einem Menschen erzählt. Wir gehen nach Hause und hören uns an, wie Haj gefoltert wird.
* * *
Kerzengerade sitzt sie da, an der anderen Wand, so weit von mir entfernt wie nur m öglich. Sie hat ihr Krankenschwesterngesicht aufgesetzt. Ihre Miene ist verschlossen. Ob Haj schreit, ob Tabizi wütet oder ihn verspottet, ob Benny und Anton ihn mit dem Gerät malträtieren, das Spider ihnen netterweise zusammengebastelt hat, Hannah bleibt neutral wie ein Richter, der nichts an sich heranläßt, schon gar nicht mich. Als Haj um Gnade fleht, sind ihre Züge stoisch. Als er Tabizi und den Mwangaza ob ihres schmutzigen Handels mit Kinshasa verhöhnt, zeigt sie kaum eine Regung. Als Anton und Benny ihn unter die Dusche stellen, entfährt ihr ein gedämpfter Ausruf der Empörung, doch ihr Gesicht spiegelt nichts davon wider. Erst als Philip auftritt und mit der sanften Stimme der Vernunft auf ihn einredet, begreife ich, daß sie jede Sekunde mit Haj durchlebt und durchlitten hat, gerade so, als hätte sie an seinem Krankenbett gesessen. Und als Haj drei Millionen Dollar verlangt, damit er sein Heimatland verrät und verkauft, erwarte ich wenigstens ein Zeichen der Entrüstung, aber sie senkt nur den Blick und schüttelt mitfühlend den Kopf.
»Der arme, kleine Angeber«, murmelt sie. »Sie haben seine Seele gebrochen!«
An dieser Stelle will ich das Band stoppen, um ihr die letzte Verh öhnung zu ersparen, doch sie hält meine Hand fest.
»Von jetzt an singt er nur noch. Um es für sich leichter zu machen. Nur leider ohne Erfolg«, erkläre ich sanft.
Als sie trotzdem darauf besteht, lasse ich das Band bis zum Ende laufen, von Hajs Rundgang durch den Salon des Mwangaza bis zum trotzigen Klappern seiner Krokosohlen in dem Bogengang zur G ästesuite.
»Noch mal«, befiehlt sie.
Also spiele ich es noch einmal ab, und danach sitzt sie lange reglos da.
»Er zieht einen Fuß nach, hast du das gehört? Vielleicht hat er einen Herzschaden erlitten.«
Nein, Hannah, da ß er einen Fuß nachzieht, habe ich nicht bemerkt. Ich schalte das Gerät aus, doch sie rührt sich noch immer nicht.
»Kennst du das Lied?« fragt sie.
»Es ist wie all die anderen Lieder, die wir gesungen haben.«
»Warum hat Haj es gesungen?«
»Vielleicht, um sich Mut zu machen.«
»Oder um dir Mut zu machen.«
»Auch möglich«, gebe ich zu.
* * *
Hannah ist praktisch veranlagt. Wenn sie ein Problem l ösen muß, packt sie es an der Wurzel und macht sich methodisch ans Werk. Ich habe meinen Pater Michael,
sie hat ihre Schwester Imog ène. Imogène hat ihr an der Missionsschule alles beigebracht, was sie wußte. Als Hannah schwanger in Uganda saß, hat Imogène ihr tröstende Briefe geschrieben. Hannah beherzigt Imogènes Gesetz, das da lautet, daß ein Problem niemals allein dasteht. Um es zu lösen, müssen wir es zuerst in seine Bestandteile zerlegen und diese dann einzeln angehen. Erst wenn das geschehen ist – keine Sekunde vorher –, wird Gott uns den richtigen Weg weisen. Dies ist Hannahs Modus operandi, sowohl bei der Arbeit als auch sonst im Leben, und so gibt es kein Entrinnen für mich: Zwar in liebevollem Ton und von aufmunternden Zärtlichkeiten unterbrochen, unterzieht sie mich doch einem unverblümten Verhör, auf Französisch, jetzt unserer Sprache der Klarheit.
»Wie und wann hast du die Bänder und die Stenoblöcke gestohlen, Salvo?«
Ich schildere ihr meinen letzten Gang in den Heizungskeller, Philips überraschendes Auftauchen, mein knappes Entkommen.
»Auf
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