Geheime Melodie
Geschenk aussuchen.«
»Am meisten wünscht er sich, seine Cousins und Cousinen in Goma zu besuchen. Ich möchte nicht, daß er in ein Kriegsgebiet fahren muß.«
»Das muß er auch nicht. Gib uns nur ein paar Tage. Nur für den Fall, daß sich noch etwas tut.«
»Was denn zum Beispiel, Salvo?«
»Das sind schließlich nicht alles Monster. Vielleicht siegt die Vernunft ja doch«, beharrte ich, woraufhin sie sich aufrichtete und mich mit einem Blick bedachte, den sie sonst vermutlich für Patienten bereithielt, die sie im Verdacht hatte, sie über ihre Symptome zu belügen.
»Fünf Tage«, insistierte ich. »Am sechsten schicken wir alles an Haj. Dann hat er immer noch genug Zeit. Mehr als genug, würde ich sagen.«
Danach kann ich mich nur noch an ein Gespr äch erinnern, das später bedeutsam werden sollte. Wir liegen engumschlungen beieinander, unsere Sorgen scheinbar vergessen, als Hannah mir plötzlich von Grace’ Freund Latzi erzählt, dem verrückten Polen.
»Weißt du, womit er sein Geld verdient? Er arbeitet in Soho in einem Plattenstudio für Rockbands. Nachts werden die Aufnahmen eingespielt, morgens kommt er v öllig bekifft nach Hause, und dann lieben sie sich den ganzen Tag.«
»Und?«
»Und? Ich kann ihn fragen. Er macht uns bestimmt einen guten Preis.«
Ich setze mich auf. »Hannah. Ich möchte nicht, daß du dich der Mittäterschaft schuldig machst. Wenn jemand Haj die Bänder schickt, dann ich.«
Sie sagt nichts, und ich nehme ihr Schweigen als Zustimmung. Wir verschlafen und m üssen in fliegender Hast packen. Auf Hannahs Bitte laufe ich barfuß nach unten und frage Mr. Hakim, ob er uns ein Taxi rufen kann. Als ich zurückkomme, steht sie vor dem altersschwachen Kleiderschrank, in der Hand meine Umhängetasche, die in der Hektik aus dem Versteck gerutscht ist – aber, Gott sei Dank, ohne mein kostbares J’accuse!
»Komm, laß mich«, sage ich, recke mich und packe die Tasche wieder an ihren Platz zurück.
»Ach, Salvo«, sagt sie, was ich als Dankbarkeit deute.
Sie ist immer noch nicht fertig angezogen. Fatal, fatal.
* * *
Auf der Strecke Victoria-Sevenoaks waren zus ätzliche Schnellbusse eingesetzt worden, für die vielen Bahnpendler, die der Schiene seit den Bombenanschlägen den Rücken gekehrt hatten. Die Pudelmütze tief in die Stirn gezogen, näherte ich mich vorsichtig der Warte schlange, mir meiner Hautfarbe nur allzu bewu ßt. Bis hierher war ich teils zu Fuß, teils mit dem Bus gekommen, wobei ich unterwegs zweimal in letzter Sekunde ausgestiegen war, um potentielle Verfolger abzuschütteln. Die Gegenaufklärung verlangt einem Agenten einiges ab. Als mich der Wachmann am Busbahnhof abtastete, wünschte ich mir fast, er möge mich erkennen und dem grausamen Spiel ein Ende machen. Aber an dem braunen Umschlag mit der Aufschrift J’accuse!, der gefaltet in der Innentasche meiner Lederjacke steckte, hatte er nichts auszusetzen. In Sevenoaks rief ich von einer Telefonzelle aus Grace an, die sich unter lautem Gelächter meldete. Die Busfahrt nach Bognor war nicht ohne Abenteuer abgelaufen.
»Du weißt noch, Amelia? Ihr ist unterwegs schlecht geworden, Salvo. Alles war voll, du würdest es nicht glauben. Der ganze Bus, ihr neues Kleid und die neuen Schuhe. Hannah und ich, wir stehen hier mit Wischmops und schütteln bloß noch den Kopf.«
»Salvo?« Das war Hannah.
»Ich liebe dich, Hannah.«
»Ich liebe dich auch, Salvo.«
Sie hatte mir die Absolution erteilt, jetzt konnte ich weitermachen.
* * *
Die St. Roderic ’s School for Boys and Girls lag am grünen Rand der Altstadt von Sevenoaks. Zwischen Villen, in deren unkrautfreien, sauber gekiesten Einfahrten noble Neuwagen parkten, stand sie da wie eine Doppelg ängerin des Herz-Jesu-Heims, mitsamt Türmchen, Zinnen und einer unheilverkündenden Uhr. Die Memorial Hall, ein Saal aus Glas und Backstein, war von dankbaren Eltern und ehemaligen Schülern gestiftet worden. Ein neonfarbener Pfeil wies die Besucher eine geflieste Treppe hinauf. Im Kielwasser korpulenter Damen gelangte ich auf eine Holzempore und setzte mich neben einem älteren Geistlichen mit ähnlich wohlfrisiertem weißen Haupt wie Philip. Unter uns, hufeisenförmig angeordnet, hatte der sechzig Mann starke Chor von Sevenoaks Aufstellung genommen – der autorisierte, wohlgemerkt. Ein Mann mit Samtjacke und Fliege erteilte seinen Schäfchen von einem Podest aus eine Lektion zum Thema Entrüstung.
»Sie zu fühlen ist schön und gut. Aber man muß sie auch
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