Geheime Melodie
hatte ich ja gesagt?
Hatte Mr. Anderson, als er mich über meine Aufgaben aufklärte, erwähnt, daß ich mich dafür in einen linguistischen Eisberg zu verwandeln hatte, zu neun Zehnteln unter Wasser? Hatte er nicht. Er hatte mir einen Fronteinsatz versprochen, mir gesagt, daß ich eine Lügenexistenz würde führen müssen, und mich gewarnt, daß ich draußen im Feld nicht die biblische Wahrheit erwarten dürfe, in deren Geiste wir erzogen worden seien. Kein Wort von Unter- und Überwassersprachen oder kontrollierter Schizophrenie.
Jetzt seien Sie nicht zickig, Sinclair. Es ist kinderleicht. Tats ächlich, Skipper? So zu tun, als ob man etwas gehört hat, ist relativ simpel, dem würde ich zustimmen. Das ist gang und gäbe. Aber so zu tun, als ob man etwas nicht gehört hat, ist meiner Erfahrung nach das Gegenteil von einfach. Ein Spitzendolmetscher reagiert automatisch. Er ist dazu ausgebildet, ins kalte Wasser zu springen, da kann er Eisberge nicht gebrauchen. Er hört, er springt, alles weitere kommt von selbst. Gut, zugegeben: früher oder später denkt er auch nach. Aber sein Talent zeigt sich beim spontanen Reagieren, nicht beim Wiederkäuen.
W ährend ich noch so vor mich hin sann, brüllte uns einer der unrasierten Piloten zu, wir sollten uns festhalten. Das Flugzeug ruckte wie von einer Gewehrsalve getroffen, ruckte noch einmal und kam nach einigen schwerfälligen Aufsetzern zum Stehen. Krachend ging die Kabinentür auf, und ein eisiger Luftschwall blies herein. Ich war froh um mein Tweedsakko. Unser Skipper war der erste, der ins Leere trat, dann Benny mit seinem Seesack, gefolgt von Monsieur Jasper samt Aktenkoffer. Auf Antons Wink kletterte ich ihnen nach, die Reisetasche vorneweg. Ich landete auf weichem Grund, die Luft roch nach Ebbe am Meer. Zwei Paar Scheinwerfer holperten über eine Wiese auf uns zu. Erst hielt ein Pritschenwagen neben uns an, dann ein Kleinbus. Anton scheuchte mich in den Bus, Benny schob Jasper hinter mir her. Im Schatten des Flugzeugs luden die Anoraks schwarze Kästen auf den Pritschenwagen. Unsere Fahrerin war eine reifere Ausgabe von Bridget, mit Kopftuch und pelzgefütterter Jacke.
Die mit Schlagl öchern übersäte Piste hatte weder Markierungen noch Schilder. Fuhren wir auf der rechten oder auf der linken Seite? Im schwachen Schein des Abblendlichts glotzte uns ein staatenloses Schaf vom Wegesrand an. Es ging einen Berg hinauf, und als wir auf der anderen Seite wieder hinunterfuhren, ragten aus dem sternlosen Himmel plötzlich zwei granitene Torpfosten vor uns auf. Wir rumpelten über ein Viehgitter, umrundeten ein Kiefernwäldchen und hielten in einem kopfsteingepflasterten, von hohen Mauern umschlossenen Hof an.
Giebel und D ächer verloren sich im Dunkeln. Im Gänsemarsch folgten wir unserer Fahrerin in einen schwach beleuchteten Vorraum, gut sechs Meter hoch. Auf dem Fußboden mehrere Reihen von Gummistiefeln, auf die in weißer Farbe die jeweilige Größe gemalt stand. Die Siebenen hatten einen kontinentalen Quer-, die Einsen einen Aufstrich. An den Wänden uralte Schneeschuhe, gekreuzt wie Tennisschläger. Ob sie Schotten gehört hatten? Schweden? Norwegern? Dänen? Oder war unser Gastgeber nur ein Sammler nordischen Nippes? Eine kleine Insel oben im Norden, wo wir ungestört sind. Je weniger wir wußten, desto ruhiger konnten wir hinterher schlafen. Die Fahrerin ging vor uns her. Ein Schild an ihrem Pelzkragen wies sie als Gladys aus. Hintereinander betraten wir eine große Eingangshalle mit Balkendecke. In alle Richtungen zweigten Flure ab. Auf diejenigen von uns, die nach dem Chow Mein noch Appetit hatten, warteten ein kalter Imbiß und ein Teeautomat. Eine zweite Frau, Janet, wie ihr Namensschild verriet, erklärte den ein zelnen Mitgliedern des Teams unter viel L ächeln, wohin sie sich zu begeben hatten. Mir wies sie zunächst einen Platz auf einem bestickten Sofa zu.
Die Standuhr mit den üppigen Rundungen war auf britische Zeit gestellt. Vor sechs Stunden hatte ich Hannah verlassen. Vor fünf Stunden Penelope. Vor vier Stunden Mr. Anderson. Vor zwei Stunden den Flughafen Luton. Und gerade einmal eine halbe Stunde war es her, daß Maxie mir befohlen hatte, mit meinen besten Sprachen auf Tauchstation zu gehen. Anton, mein guter Hirte, rüttelte mich an der Schulter. Während ich hinter ihm eine Wendeltreppe hinauftrottete, war mir zumute, als sollte ich gleich aus der reinigenden Hand des Abts meine gerechte Strafe empfangen.
»Und? Geht’s uns gut,
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