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Geheime Melodie

Geheime Melodie

Titel: Geheime Melodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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oberen Rand meines Gesichtsfelds, während ich die Mappe durchblättere. Er lächelt jemandem hinter mir zu, ein warmes, ein kumpelhaftes, ja intimes Lächeln, also Vorsicht. Über die Steinfliesen klacken Krokosohlen heran, und mir wird flau im Magen. Ihr Tempo ist schleppender als gewohnt. Haj schlendert auf den Tisch zu, Sakko offen, senfgelbes Futter hervorblitzend, Parker-Füller wieder vollzählig, gegelte Stirnlocke mehr oder weniger da, wo sie sein soll. Im Herz-Jesu-Heim schuldete man es sich, unbekümmert aufzutreten, wenn man sich nach einer Tracht Prügel zu den Klassenkameraden gesellte. Haj läßt sich von dem gleichen Ethos leiten. Seine Hände sind in die Hosentaschen geschoben, sichtlich ihr liebster Platz, und er wiegt sich in den Hüften. Dabei weiß ich, daß jede Bewegung ihm Qualen bereiten muß. Auf halbem Weg zu seinem Stuhl bleibt er stehen, fängt meinen Blick auf und grinst mir zu. Ich habe meine Mappe vor mir, und sie ist aufgeschlagen, also könnte ich vage lächeln und zu meiner Lektüre zurückkehren. Aber das tue ich nicht. Ich schaue ihm geradewegs ins Gesicht.
    Ich schaue ihm ins Gesicht, und er schaut zur ück, und so verharren wir. Wie lange, das kann ich im Rückblick nicht sagen. Ich nehme nicht an, daß der Sekundenzeiger der Bahnhofsuhr mehr als einen oder zwei Striche vorrückte. Aber auf jeden Fall lange genug, um ihm zu zeigen, daß ich Bescheid wußte, wenn denn einer von uns jemals daran gezweifelt hatte. Und lange genug, um mir zu zeigen, da ß er wußte, daß ich Bescheid wußte, und so immer hin und her. Und lange genug, um für einen eventuellen Beobachter klarzustellen, daß wir entweder zwei Homosexuelle sein mußten, die Balzsignale aussandten, oder aber zwei Männer, die ein verbotenes Wissen miteinander teilten, was genausowenig angehen konnte. Seine Glupschaugen schauten etwas trübe, aber wie auch nicht, nach dem, was er durchgemacht hatte? Bezichtigten sie mich des Verrats an ihm? Bezichtigte ich ihn des Verrats an sich selbst, und am Kongo? Heute, mit all diesen Tagen und Nächten zu meiner Verfügung, um über unseren Blickwechsel nachzusinnen, sehe ich ihn als einen Moment verdeckten gegenseitigen Erkennens. Beide waren wir Hybriden: ich durch meine Geburt, er durch seine Bildung. Beide hatten wir uns zu viele Schritte von dem Land entfernt, das uns hervorgebracht hatte, um noch irgendwo wirklich hinzugehören.
    Er setzte sich unter leichtem Zusammenzucken und entdeckte den wei ßen Umschlag, der aus seiner Mappe hervorspitzte. Er fischte ihn mit Daumen und Zeigefinger heraus, roch daran und öffnete ihn dann vor aller Augen. Er faltete ein postkartengroßes Stück weißes Papier auf, einen Computerausdruck, so wie es aussah, und überflog den zweizeiligen Text, der vermutlich in angemessen verklausulierter Sprache den Sonderdeal bestätigte, den er für sich und seinen Vater herausgeschlagen hatte. Ich hätte erwartet, daß er Philip vielleicht ein Nicken zukommen lassen würde, aber das schenkte er sich. Er knüllte das Blatt zusammen und versenkte es – mit beachtlicher Zielsicherheit, wenn man seine Verfassung bedachte – in einer Porzellanurne, die in einer Zimmerecke stand.
    »Volltreffer!« rief er auf Französisch und warf die Hände über den Kopf, was ihm nachsichtiges Gelächter seitens der Tafelrunde eintrug.
    Ich übergehe das langwierige Gefeilsche, die endlosen Haarspaltereien, mittels derer Delegierte jeder Provenienz sich beweisen müssen, daß sie die Interessen ihrer Firma oder ihres Stammes zu wahren wissen und mehr auf dem Kasten haben als der Delegierte neben ihnen. Für mich war es eine Spanne, in der ich auf Autopilot schalten und zusehen konnte, wie ich meinen Kopf und meine Emotionen wieder unter Kontrolle brachte, während ich gleichzeitig mit allen verfügbaren Mitteln – hauptsächlich durch völlige Gleichgültigkeit gegenüber jeglichen Äußerungen von Haj – den Eindruck zu zerstreuen versuchte, zwischen ihm und mir gäbe es irgendeine Form von (um ein Lieblings-Schlagwort eines meiner Sicherheitsausbilder zu benutzen) »lateraler Beeinflussung«. Insgeheim schlug ich mich mit der Angst herum, Haj könnte unsichtbare Verletzungen davongetragen haben, innere Blutungen etwa, aber ich sah mich beruhigt, als die heikle Frage nach der offiziellen Besoldung des Mwangaza aufs Tapet kam.
    »Aber, Mzee«, protestiert Haj und wirft auf die alte Weise den Arm hoch. »Mit Verlaub, Mzee. Einen Augenblick« – auf Französisch, das

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