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Geheime Spiel

Geheime Spiel

Titel: Geheime Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Morton
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müde ist?
    Der Soldat und der Sockel, auf dem er steht, sind von Moos überwachsen; winzige Pflanzen sprießen aus den eingemeißelten Namen der Toten. Davids Name steht hier, ganz oben zwischen den Namen der anderen Offiziere; und auch Rufus Smith, der Sohn des Lumpenhändlers, der in einem eingestürzten Schützengraben erstickte, ist hier verewigt. Weiter unten steht der Name Raymond Jones, der als Hausierer durchs Dorf zog, als ich noch ein Mädchen war. Seine kleinen Söhne müssten inzwischen alte Männer sein, aber immer noch jünger als ich. Vielleicht sind sie auch schon tot.
    Kein Wunder, dass der Soldat zerbröckelt. Es ist viel verlangt von einem Mann, die unzähligen Tragödien auf seinen Schultern zu tragen und all die Tode zu bezeugen.
    Aber er ist nicht allein: So einen wie ihn gibt es in jeder englischen Stadt. Sie stellen die Narben der Nation
dar; sie überziehen das Land seit 1919 wie ein kunstvoller Ausschlag, Ausdruck des unbedingten Heilungswillens. Wir leisteten uns damals einen extravaganten Glauben: an den Völkerbund und an die Möglichkeit einer zivilisierten Welt. Gegen eine derart wild entschlossene Hoffnung hatten die desillusionierten Dichter keine Chance. Für jeden T.S. Eliot, für jeden R.S. Hunter gab es fünfzig kluge junge Männer, die für Tennysons Traum des Parlaments der Menschheit und einen Bund aller Nationen eintraten.
    Das hielt natürlich nicht lange an. Wie sollte es auch? Die Desillusionierung war unvermeidlich; nach den Zwanzigerjahren kam die Depression in den Dreißigern, und danach wieder ein Krieg. Und nach diesem war alles anders. Keine Ehrenmäler erstanden triumphierend und trotzig und hoffnungsvoll aus dem Atompilz des Zweiten Weltkriegs. Die Hoffnung wurde in den Gaskammern in Polen vernichtet. Eine neue Generation von Kriegsopfern wurde nach Hause geschickt, und eine zweite Namenreihe wurde in die bereits existierenden Denkmäler graviert – die Söhne unter den Vätern. Und die erschöpften Überlebenden wussten bereits, dass eines Tages wieder junge Männer fallen würden.
    Kriege lassen die Geschichte trügerisch einfach erscheinen. Sie setzen deutliche Wendepunkte, klare Trennlinien: vorher und nachher, Gewinner und Verlierer, richtig und falsch. Die wahre Geschichte, die wirkliche Vergangenheit ist nicht so. Sie ist weder zweidimensional noch linear. Sie hat keine deutlichen Umrisse. Sie ist schlüpfrig wie Flüssigkeit; unendlich und unfassbar wie das Universum. Und sie ist veränderlich: Immer wenn man glaubt, man hätte ein Muster erkannt, verschiebt sich die Perspektive, jemand liefert eine andere Version, und eine längst vergessene Erinnerung taucht wieder auf.

    Ich habe versucht, mich auf die Wendepunkte in Hannahs und Teddys Geschichte zu konzentrieren; neuerdings führen alle meine Gedanken zu Hannah. Im Rückblick erscheint es ganz deutlich: Es gab bereits im ersten Jahr ihrer Ehe gewisse Ereignisse, die den Boden bereiteten für das, was später kommen sollte. Damals konnte ich sie nicht sehen. Im wirklichen Leben sind Wendepunkte hinterhältig. Sie ziehen unspektakulär und unbeachtet vorbei. Gelegenheiten werden verpasst, Katastrophen unwissentlich ausgelöst. Wendepunkte werden immer erst im Nachhinein entdeckt, von Historikern, die versuchen, Ordnung in eine Lebenszeit voller verworrener Momente zu bringen.
    Ich frage mich, wie ihre Ehe wohl in dem Film dargestellt wird. Wie wird Ursula begründen, warum die beiden unglücklich waren? War es Deborahs Ankunft aus New York? Teddys Wahlniederlage? Das Ausbleiben eines Erben? Wird sie auch erkennen, dass die Zeichen schon auf ihrer Hochzeitsreise vorhanden waren – die zukünftigen Spannungen, die schon im Dämmerlicht von Paris sichtbar waren wie winzige Fehler im durchscheinenden Stoff der Zwanzigerjahre: hübsche, unbedeutende Gewebe, viel zu zart, um Bestand haben zu können?
     
    Im Sommer 1919 sonnte sich Paris im warmen Optimismus der Versailler Friedenskonferenz. Abends half ich Hannah beim Auskleiden, streifte das neueste durchsichtige Kleid in Blassgrün, Rosa oder Weiß ab (Teddy war ein Mann, der seinen Brandy pur mochte und seine Frauen rein), während sie mir von den Orten erzählte, die sie besucht, von den Dingen, die sie gesehen hatten. Sie bestiegen den Eiffelturm, spazierten über die Champs-Élysées und aßen in berühmten Restaurants zu Abend. Aber was Hannah begeisterte, war noch etwas ganz anderes.

    »Die Zeichnungen, Grace«, sagte sie eines Abends, als ich ihr

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