Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geheime Spiel

Geheime Spiel

Titel: Geheime Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Morton
Vom Netzwerk:
Anziehen geholfen hatte. Ich falte den Zettel mit zitternden Fingern auseinander. Warum zittere ich? Nicht vor Angst oder den anderen Gefühlen, die einen normalerweise zum Zittern bringen. Es ist die Erregung, die Überraschung, die freudige Erwartung.
    Doch dann stelle ich fest, dass ich die Nachricht nicht lesen kann. Lauter geschwungene Linien und Punkte und Striche in säuberlichen Zeilen. Stenografie, schießt es mir durch den Kopf, während ich darauf starre. Ich erinnere mich an die Schreibblöcke, die ich vor Jahren beim Aufräumen in Hannahs Zimmer auf Riverton gefunden habe. Sie hat mir eine Nachricht in Geheimschrift hinterlassen, einer Schrift, die ich nicht lesen kann.
    Den ganzen Tag über, während ich putze, nähe und flicke, behalte ich den Zettel bei mir. Zwar gelingt es mir, meine Arbeiten irgendwie zu erledigen, aber ich kann mich nicht konzentrieren. In Gedanken bin ich immer mit Hannahs Nachricht beschäftigt, frage mich, was sie beinhalten könnte und wie ich es herausfinden kann. Ich suche nach Büchern, mit deren Hilfe ich die Nachricht entschlüsseln könnte – hat Hannah sie aus Riverton mit hierhergebracht? –, doch ich kann keins finden.
    Als ich einige Tage später gerade dabei bin, das Teegeschirr abzuräumen, beugt Hannah sich zu mir vor und flüstert: »Hast du meine Nachricht bekommen?«
    Ich bestätige, dass ich sie gefunden habe, und mein Magen verkrampft sich, als sie sagt:

    »Unser Geheimnis«, und mich anlächelt. Das erste Lächeln seit Langem.
    Jetzt weiß ich, dass es wichtig ist, dass es ein Geheimnis ist und dass ich die Einzige bin, der sie es anvertraut hat. Entweder ich muss gestehen, oder ich muss eine Möglichkeit finden, die Nachricht zu lesen. Natürlich entscheide ich mich für Letzteres. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass mir jemand einen Brief in Geheimschrift geschrieben hat.
     
    Tage später weiß ich plötzlich, was ich tun muss. Ich ziehe Die Rückkehr des Sherlock Holmes unter meiner Matratze hervor und schlage es an einer vertrauten Stelle auf. Dort, zwischen zwei meiner Lieblingsgeschichten, befindet sich mein geheimes Versteck. Zwischen Alfreds Briefen liegt ein Zettel, den ich seit einem Jahr aufbewahre. Zum Glück habe ich ihn behalten, nicht weil er ihre Adresse enthält, sondern weil er seine Handschrift trägt. Eine Zeit lang habe ich den Zettel immer wieder hervorgeholt, ihn betrachtet, daran gerochen, in Gedanken noch einmal den Tag erlebt, an dem er ihn mir gegeben hat. Aber seit einigen Monaten, seit er mir so liebevolle Briefe schreibt, habe ich den Zettel nicht mehr angesehen. Jetzt nehme ich ihn aus seinem Versteck: Lucy Starlings Adresse.
    Ich habe sie noch nie besucht, es gab auch nie einen Anlass dafür. Ich habe viel zu tun, und meine wenigen freien Stunden verbringe ich damit, Bücher zu lesen oder an Alfred zu schreiben. Und es gibt noch einen anderen Grund, der mich bisher davon abgehalten hat, sie aufzusuchen: eine winzige Flamme der Eifersucht, lächerlich und dennoch wirksam, wurde entzündet, als Alfred an dem Abend im Nebel ihren Vornamen so beiläufig aussprach.

    Als ich vor dem Haus stehe, überkommen mich Zweifel. Tue ich das Richtige? Wohnt sie überhaupt noch hier? Hätte ich mein anderes, mein gutes Kleid anziehen sollen? Ich drücke die Klingel, und eine alte Dame öffnet. Ich bin erleichtert und zugleich enttäuscht.
    »Entschuldigen Sie«, sage ich. »Ich suche nach jemand anderem.«
    »Ja?«, sagt die alte Dame.
    »Eine alte Freundin.«
    »Ihr Name?«
    »Miss Starling«, sage ich, obwohl sie das nichts angeht. »Lucy Starling.«
    Nachdem ich zum Gruß genickt und mich zum Gehen gewandt habe, sagt sie plötzlich irgendwie verschlagen: »Erster Stock. Zweite Tür links.«
    Die Vermieterin schaut mir nach, als ich die mit einem roten Läufer ausgelegte Treppe hinaufsteige. Auch wenn ich sie nicht mehr sehen kann, spüre ich ihren Blick im Rücken. Oder auch nicht. Vielleicht habe ich nur zu viele Kriminalromane gelesen.
    Zögernd gehe ich den Flur entlang. Es ist dunkel. Das einzige Fenster über der Treppe ist völlig verrußt. Zweite Tür links. Ich klopfe an, höre ein Rascheln. Offenbar ist sie zu Hause. Ich atme tief durch.
    Die Tür öffnet sich. Sie ist es. Genau, wie ich sie in Erinnerung habe.
    Sie mustert mich einen Moment lang. »Ja?« Sie blinzelt. »Kennen wir uns?«
    Die Vermieterin beobachtet mich immer noch. Ich habe mich also nicht geirrt. Sie ist die halbe Treppe hochgekommen, um mich nicht aus

Weitere Kostenlose Bücher