Geheime Spiel
kann ich ihn vielleicht einholen. Beim Laufen verfluche ich Mrs Tibbit, diese alte Hexe. Was hat sie sich dabei gedacht, Alfred zu sagen, ich würde nicht so bald zurück sein? Und dass ich an meinem freien Tag einen Auftrag für Hannah erledigt habe! Es ist, als wüsste sie genau, dass sie mir damit am meisten schaden kann. Ich kenne Alfred inzwischen gut genug, um seine Gedanken erraten zu können. In letzter Zeit enthalten seine Briefe immer mehr Kommentare, in denen er seine Frustration über die »feudale Ausbeutung von Sklaven und Leibeigenen« zum Ausdruck bringt und dazu aufruft, »den schlafenden Riesen namens Proletariat«
zu wecken. Es ärgert ihn allein schon die Tatsache, dass ich meine Arbeitsstelle nicht als Ausbeutung empfinde. Miss Hannah braucht mich, schreibe ich ihm immer wieder, und die Arbeit macht mir Spaß: Wie kann man das als Ausbeutung bezeichnen?
Als ich von der Regent Street auf Piccadilly stoße, nehmen der Lärm und das Gedränge zu. Die Saqui & Lawrence-Uhren stehen auf halb fünf – Büroschluss – und der Piccadilly Circus ist völlig verstopft von Fußgängern und Automobilen. Vornehme Damen und Herren, Geschäftsleute und Botenjungen drängen in alle Richtungen. Ich schiebe mich zwischen einem Autobus und einem parkenden Taxi hindurch und werde beinahe von einem mit prallen Jutesäcken beladenen Pferdewagen platt gefahren.
Ich eile weiter, den Haymarket hinunter, springe über einen Spazierstock, dessen Besitzer mir hinterherflucht. Ich halte mich dicht an den Häusern, wo der Verkehr nicht ganz so dicht ist, bis ich atemlos vor dem Königlichen Theater stehe. Direkt unter dem Theaterplakat lehne ich mich gegen die Wand, schaue in die lachenden, stirnrunzelnden, plaudernden, nickenden Gesichter, die an mir vorüberziehen, und hoffe, ein vertrautes darunter zu entdecken. Ein dünner Herr und eine noch dünnere Dame eilen die Stufen zum Theater hinauf. Er zeigt zwei Eintrittskarten vor, und die beiden werden eingelassen. In der Ferne schlägt eine Uhr – Big Ben? – die Viertelstunde. Ob Alfred noch kommt? Hat er es sich anders überlegt? Oder bin ich zu spät, und er hat seinen Platz schon eingenommen?
Ich warte, bis Big Ben die volle Stunde schlägt, dann für alle Fälle noch eine Viertelstunde. Niemand hat nach den beiden vornehm gekleideten Windhunden das Theater betreten oder verlassen. Ich sitze inzwischen auf der
Treppe. Schließlich ergebe ich mich betrübt in mein Schicksal. Ich werde Alfred heute Abend nicht treffen.
Als ein Straßenfeger mir einen lüsternen Blick zuwirft, beschließe ich, mich auf den Heimweg zu machen. Ich ziehe meinen Schal fester um die Schultern, rücke meinen Hut zurecht und kehre zur Nummer siebzehn zurück. Ich werde Alfred schreiben. Ihm erklären, was passiert ist. Werde ihm von Hannah und Mrs Tibbit berichten, ihm vielleicht sogar die ganze Wahrheit über Emmeline und Philippe und den Beinahe-Skandal erzählen. Trotz all seiner Reden über Ausbeutung und feudale Gesellschaft wird er das doch verstehen, oder?
Hannah hat Teddy von Emmelines Filmen erzählt, und er ist außer sich. Der Zeitpunkt könnte nicht schlechter gewählt sein, sagt er: Er und sein Vater stehen kurz vor der Fusionierung mit der Briggs Bank. Sie werden eins der größten Banksyndikate Londons sein. Der Welt. Wenn sich diese anstößige Geschichte herumspricht, wird es nicht nur ihn, sondern sie alle ruinieren.
Hannah nickt und wirbt um Verständnis, erinnert Teddy daran, dass Emmeline jung, naiv und leichtgläubig ist. Verspricht, dass sie sich ändern wird.
Teddy stöhnt. Er stöhnt oft in letzter Zeit. Er fährt sich mit einer Hand durch seine dunklen Haare, die allmählich grau werden. Emmeline hat niemanden, der sich um sie kümmert, meint er, das ist das Problem. Geschöpfe, die ohne jede Kontrolle aufwachsen, verwildern eben.
Hannah gibt ihm zu bedenken, dass Emmeline in demselben Haus aufwächst, in dem sie aufgewachsen ist, aber Teddy hebt nur spöttisch die Brauen.
Er schnaubt. Er hat keine Zeit, weiter darüber zu diskutieren, er muss in seinen Club. Er lässt sich von Hannah die Adresse des Filmregisseurs aufschreiben und ermahnt
sie, ihm in Zukunft nichts mehr vorzuenthalten. Zwischen Eheleuten dürfe es keinerlei Geheimnisse geben, sagt er.
Am nächsten Morgen, als ich Hannahs Frisierkommode aufräume, finde ich eine Nachricht mit meinem Namen darauf, die sie für mich dagelassen hat. Sie muss sie dort hingelegt haben, nachdem ich ihr beim
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