Geheime Spiel
zum Gehen wendet, halte sie ganz fest. So weich und glatt. »Ich möchte Sie etwas fragen«, sage ich. »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten, bevor Ruth …«
»Selbstverständlich«, antwortet sie. »Alles, was Sie wollen.« Sie sieht mich fragend an, hat die Dringlichkeit in meiner Stimme wahrgenommen. »Worum geht es denn?«
»Riverton. Ich möchte Riverton noch einmal sehen. Ich möchte, dass Sie mit mir hinfahren.«
Sie spannt die Lippen an, runzelt die Stirn. Ich habe sie in Verlegenheit gebracht.
»Bitte.«
»Ich weiß nicht, Grace. Was würde Ruth dazu sagen?«
»Sie würde nein sagen. Deswegen bitte ich ja auch Sie darum.«
Ihr Blick richtet sich auf die Wand. Die Situation ist ihr unangenehm. »Vielleicht könnte ich Ihnen stattdessen ein paar Filmszenen mitbringen, die wir dort geschossen haben? Ich könnte sie auf Video überspielen lassen …«
»Nein«, sage ich bestimmt. »Ich muss noch einmal dorthin.« Sie schaut mich immer noch nicht an. »Bald«, sage ich. »Es muss bald sein.«
Sie dreht sich zu mir um, und noch bevor sie nickt, weiß ich, dass sie ja sagen wird.
Ich nicke auch, bedanke mich, dann zeige ich auf die Schachtel mit den Agatha Christie-Kassetten. »Ich bin ihr mal begegnet, wissen Sie. Agatha Christie.«
Es war Ende 1922. Teddy und Hannah hatten in der Nummer siebzehn zu einer Dinnerparty geladen. Teddy und sein Vater hatten irgendetwas mit Archibald Christie zu besprechen, etwas, das mit einer Erfindung zu tun hatte, an deren Entwicklung er damals arbeitete.
In jenen ersten Jahren des Jahrzehnts hatten sie sehr häufig Gäste. Aber an dieses Abendessen erinnere ich mich aus mehreren Gründen besonders gut. Einer davon ist die Anwesenheit von Agatha Christie. Sie hatte damals erst ein Buch veröffentlicht, Das fehlende Glied in der Kette , aber in meiner Fantasiewelt war Hercule Poirot bereits an die Stelle von Sherlock Holmes getreten. Letzterer war ein Kamerad aus Kindertagen, Ersterer Teil meiner neuen Welt.
Emmeline war auch da. Sie hielt sich seit einem Monat in London auf. Sie war achtzehn Jahre alt und war in Hannah und Teddys Haus in die Gesellschaft eingeführt worden. Niemand redete davon, einen Ehemann für sie zu finden, so wie es damals bei Hannah gewesen war. Seit dem Ball auf Riverton waren nur vier Jahre vergangen, aber die Zeiten hatten sich verändert. Die jungen Frauen hatten sich verändert. Sie hatten sich von ihren Korsetts befreit, nur um sich stattdessen strengen Diäten zu unterwerfen. Sie wirkten wie junge Fohlen mit ihren schlaksigen Beinen, abgebundenen Brüsten und glatten Bubiköpfen. Sie flüsterten nicht mehr hinter vorgehaltener Hand und schlugen nicht länger scheu die Augen nieder. Sie scherzten und tranken, rauchten und fluchten mit den jungen Männern. Die Taillen waren nach unten gerutscht, die Stoffe dünner geworden, und mit der Moral nahm man es nicht mehr so genau.
Vielleicht erklärt das alles die ungewöhnliche Diskussion bei Tisch, oder aber es war die Anwesenheit von Mrs Christie, die das Gespräch darüber aufkommen ließ. Ganz zu schweigen von der Flut von Zeitungsartikeln, die sich in jüngster Zeit mit diesem Thema beschäftigt hatten.
»Sie werden beide an den Galgen kommen«, sagte Teddy gut gelaunt. »Edith Thompson und Freddy Bywaters. Genau wie dieser Kerl, der seine Frau umgebracht hat. Anfang des Jahres, in Wales. Wie hieß er noch gleich? War er nicht bei der Armee, Colonel?«
»Major Herbert Rowse«, sagte Colonel Christie.
Emmeline erschauderte theatralisch. »Das muss man sich mal vorstellen, die eigene Frau umzubringen, einen Menschen, den man eigentlich lieben müsste.«
»Die meisten Morde geschehen zwischen Menschen, die vorgeben, sich zu lieben«, sagte Mrs Christie trocken.
»Die Menschen werden ganz allgemein immer gewalttätiger«, bemerkte Teddy, während er sich eine Zigarre anzündete. »Man braucht nur die Zeitung aufzuschlagen, dann wird einem das klar. Trotz des Verbots von Schusswaffen.«
»Wir leben in England, Mr Luxton«, sagte Colonel Christie, »dem Heimatland der Fuchsjagd. Sich eine Schusswaffe zu besorgen, ist wirklich nicht sehr schwer.«
»Ich habe einen Freund, der immer eine Pistole bei sich trägt«, flötete Emmeline.
»Blödsinn«, sagte Hannah kopfschüttelnd. Sie schaute Mrs Christie an. »Ich fürchte, meine Schwester hat zu viele amerikanische Filme gesehen.«
»Aber es stimmt«, sagte Emmeline. »Dieser Freund – dessen Namen ich hier nicht nennen werde
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