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Geheime Spiel

Geheime Spiel

Titel: Geheime Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Morton
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Osten fuhren, umso kälter wurde es. Schneeregen schlug gegen die Fensterscheiben, sodass ich die Landschaft nur noch als eine Reihe verschwommener Bilder an mir vorbeiziehen sehen konnte. Der Winter hatte die Welt ihrer Lebendigkeit beraubt. Schneebedeckte Felder gingen in den grauen Himmel über, wurden allmählich verdrängt von den für Essex typischen uralten Waldgebieten in Graubraun und Moosgrün.
    Wir verließen die Landstraße und fuhren durch das kalte, menschenleere Moor nach Saffron. Silbrige Schilfhalme zitterten an vereisten Bachufern, und Bartflechten hingen an den kahlen Bäumen. Während ich die Kurven zählte, hielt ich aus irgendeinem Grund den Atem an und atmete erst wieder aus, als wir die Abzweigung nach Riverton hinter uns gelassen hatten. Wir hielten vor dem kleinen grauen Steinhaus auf der Market Street, das wie immer stumm und eingezwängt zwischen seinen beiden Schwestern stand. Der Fahrer hielt mir die Tür auf und stellte meinen Koffer auf dem nassen Pflaster ab.
    »Da sind wir«, sagte er.
    Ich bedankte mich, und er nickte.
    »Ich hole dich in fünf Tagen wieder ab«, sagte er. »Wie die Mistress es mir aufgetragen hat.«
    Während ich dem Auto nachschaute, wie es die Straße hinunterfuhr und in die Saffron High Street einbog, hätte
ich den Fahrer am liebsten zurückgerufen und ihn angefleht, mich nicht dort zurückzulassen. Aber dazu war es zu spät. Im fahlen Licht der Abenddämmerung blickte ich an dem Haus hoch, in dem ich die ersten vierzehn Jahre meines Lebens verbracht hatte, dem Haus, in dem meine Mutter gelebt hatte und gestorben war. Und ich empfand nichts.
    Ich empfand nichts seit dem Augenblick, als Hannah es mir gesagt hatte. Auf dem ganzen Weg nach Saffron hatte ich versucht, mich zu erinnern. An meine Mutter, meine Vergangenheit, an die, die ich einmal gewesen war. Wohin verschwinden unsere Kindheitserinnerungen? Es muss doch so viele geben. Ganz neue, farbenfrohe Erfahrungen. Vielleicht leben Kinder so sehr für den Augenblick, dass sie weder die Zeit noch das Bedürfnis haben, sich die Bilder für später einzuprägen.
    Die Straßenlaternen gingen an – verschwommen gelb in kalter Luft –, und der Schneeregen setzte wieder ein. Meine Wangen waren schon so taub, dass ich die feinen, nassen Flocken im Laternenlicht sah, ehe ich sie spürte.
    Ich hob meinen Koffer auf, nahm meinen Schlüssel aus der Tasche und hatte gerade einen Fuß auf die Stufe gesetzt, als die Haustür aufgerissen wurde. Vor mir stand meine Tante Dee, die Schwester meiner Mutter. Sie hielt eine Lampe in der Hand, die Schatten auf ihr Gesicht warf und sie dadurch älter und runzliger erscheinen ließ, als sie in Wirklichkeit war. »Da bist du ja«, sagte sie. »Na, dann komm rein.«
    Sie führte mich zuerst ins Wohnzimmer. Sie schlafe in meinem alten Bett, erklärte sie mir, ich müsse also mit dem Sofa vorliebnehmen. Während sie sich verlegen räusperte, stellte ich meinen Koffer an die Wand.
    »Ich hab Suppe zum Abendessen gemacht. Ist vielleicht nicht so gut wie das, was du in dem vornehmen
Haus in London bekommst, aber für mich und die meinen ist sie immer gut genug gewesen.«
    »Suppe wäre schön«, sagte ich.
    Schweigend aßen wir am Küchentisch. Meine Tante saß am Kopfende vor dem warmen Herd und ich am Fenster, auf dem Platz meiner Mutter. Inzwischen fielen dicke Schneeflocken, die sanft an die Fensterscheibe klopften. Die einzigen anderen Geräusche waren das Klappern unserer Löffel und hin und wieder ein Knacken vom Herdfeuer.
    »Ich nehme an, du willst deine Mutter noch mal sehen«, sagte meine Tante, als wir fertig gegessen hatten.
    Meine Mutter lag auf ihrem Bett, ihr braunes Haar offen auf dem Kissen. Ich kannte ihre Haare nur zusammengebunden; sie waren sehr lang und viel feiner als meine. Jemand – meine Tante? – hatte ihr eine leichte Decke bis unters Kinn gezogen, und es sah aus, als würde sie schlafen. Sie wirkte noch grauer, älter und verhärmter, als ich sie in Erinnerung hatte. Und sie sah merkwürdig flach aus. Ihre Matratze war vom jahrelangen Gebrauch dünn geworden, und es war schwer, die Form ihres Körpers unter der Decke auszumachen. Man hätte beinahe meinen können, dass da gar kein Körper mehr war, dass sie bereits angefangen hatte, sich Stück für Stück aufzulösen.
    Wir gingen nach unten, wo meine Tante Tee kochte, den wir später gemeinsam im Wohnzimmer tranken. Wir redeten wenig. Nach einer Weile sagte ich, ich sei müde von der Reise, und begann, mir

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