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Geheime Spiel

Geheime Spiel

Titel: Geheime Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Morton
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den Sinn kamen. »Hallo … hallo. Hier spricht Grace Bradley … Test. Eins. Zwei. Drei.«
    Sylvia ließ den Walkman sinken und grinste. »Absolut professionell.« Sie drückte einen Knopf, und das Gerät fing an zu surren. »Ich spule es nur zurück, damit wir es uns anhören können.«
    Als das Band zurückgelaufen war, ertönte ein Klicken. Sylvia drückte auf »play«, und wir warteten.
    Es war die Stimme des Alters: schwach, verbraucht, fast unhörbar. Ein bleiches Seidenband, morsch, nur noch aus einzelnen Fäden bestehend. Ein schwacher Abklatsch meiner selbst, meiner wirklichen Stimme, die ich in meinem Kopf und in meinen Träumen höre.

    »Großartig«, sagte Sylvia. »Ich lasse Sie jetzt allein. Rufen Sie mich, wenn Sie mich brauchen.«
    Als sie sich zum Gehen wandte, war ich plötzlich schrecklich aufgeregt.
    »Sylvia …«
    Sie drehte sich um. »Ja, meine Liebe?«
    »Was soll ich denn sagen?«
    »Na, woher soll ich das wissen?« Sie lachte. »Tun Sie einfach so, als säße er hier neben Ihnen. Erzählen Sie ihm alles, was Ihnen gerade in den Sinn kommt.«
    Und das habe ich getan, Marcus. Ich habe dich am Fußende meines Bettes vor mir gesehen, halb auf meinen Füßen liegend, so wie du es immer getan hast, als du noch klein warst, und dann habe ich angefangen zu sprechen. Ich habe dir erzählt, was ich in letzter Zeit gemacht habe, von dem Film und von Ursula. Deine Mutter habe ich vorsichtshalber kaum erwähnt und nur gesagt, dass du ihr fehlst. Dass sie sich nach dir sehnt.
    Und ich habe dir von den Erinnerungen berichtet, die mich seit einiger Zeit beschäftigen. Ich habe dir natürlich nicht alles erzählt, denn ich habe ein bestimmtes Anliegen, und das besteht wirklich nicht darin, dich mit Geschichten aus meiner Vergangenheit zu langweilen. Nein, ich habe dir beschrieben, wie meine Erinnerungen eigenartigerweise realer zu werden scheinen als die Gegenwart. Wie ich ohne Vorwarnung in die alte Zeit rutsche und enttäuscht bin, wenn ich die Augen öffne und feststelle, dass ich wieder im Jahr 1999 gelandet bin. Wie das Gefühl für Zeit sich verändert und wie ich anfange, mich in der Vergangenheit zu Hause zu fühlen und mir in dieser seltsamen, blassen Erfahrung, die wir Gegenwart nennen, wie eine Besucherin vorkomme.
    Ein komisches Gefühl, allein in seinem Zimmer zu sitzen und mit einer kleinen, schwarzen Kiste zu sprechen.
Anfangs habe ich geflüstert, aus Angst, dass jemand draußen mich hören könnte. Dass meine Stimme und ihre Geheimnisse über den Korridor in den Frühstückssaal geweht werden könnten wie der Klang einer Schiffssirene in einen fremden Hafen. Aber als die Oberschwester mit meinen Tabletten kam und mich ganz verblüfft ansah, war ich beruhigt.
    Jetzt ist sie wieder fort. Die Tabletten habe ich neben mich auf die Fensterbank gelegt. Ich werde sie später nehmen, denn vorerst brauche ich einen klaren Kopf.
    Ich beobachte, wie die Sonne über dem Hügel untergeht. Es gefällt mir, ihren Weg zu verfolgen, wenn sie still hinter den Bäumen versinkt. Heute blinzle ich und verpasse ihren letzten Abschied. Als meine Augen sich öffnen, ist der Moment vorüber, der leuchtende Halbkreis ist verschwunden und der Himmel seines Lichts beraubt: ein klares, kaltes Blau, durchwirkt von frostig weißen Streifen. Der Hügel erzittert in dem plötzlichen Dunkel, und in der Ferne kriecht ein Zug durch den Nebel im Tal, seine elektrischen Bremsen kreischen, als er in Richtung Dorf abbiegt. Ich werfe einen Blick auf meine Wanduhr. Es ist der Sechs-Uhr-Zug, voll mit Leuten, die aus Chelmsford und Brentwood und sogar aus London von der Arbeit kommen.
    Vor meinem geistigen Auge kann ich den Bahnhof sehen. Vielleicht nicht so, wie er heute ist, aber so, wie er einmal war. Die große, runde Bahnhofsuhr, die über dem Bahnsteig hängt, ihr unerschütterliches Gesicht und ihre unermüdlichen Zeiger erinnern mich daran, dass Zeit und Zug auf niemanden warten. Wahrscheinlich wurde sie inzwischen längst durch eine gesichtslose, blinkende Digitaluhr ersetzt. Ich weiß es nicht. Ich bin schon lange nicht mehr auf dem Bahnhof gewesen.

    Ich sehe ihn so vor mir, wie er an dem Morgen aussah, als Alfred in den Krieg zog und wir ihn verabschiedeten. Schnüre mit rot-blauen Papierwimpeln, die im Wind flattern, Kinder, die hin und her laufen, raus und rein flitzen, ihren Trillerpfeifen schrille Töne entlocken und Fähnchen schwenken. Junge Männer – so unglaublich junge Männer –, stolz und erwartungsvoll in

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