Geheime Spiel
Sylvia blinzelt. Der Bann ist gebrochen, und es gelingt ihr endlich, sich loszureißen. Die Tür schließt sich hinter ihr, und ich bin allein mit meinen beiden Besucherinnen.
Auf der Stelle bedaure ich es, Sylvia fortgeschickt zu haben. Ganz plötzlich habe ich das unbestimmte Gefühl, dass ihre Anwesenheit die Rückkehr der Vergangenheit hätte abwehren können.
Aber nun ist sie fort, und wir drei schweigen einander eine Weile an. Verstohlen schaue ich noch einmal zu
Keira hinüber, betrachte ihr Gesicht, versuche, mein jüngeres Ich in ihren hübschen Zügen zu entdecken. Dann zerreißen gedämpft und blechern klingende Töne die Stille.
»Oh, Verzeihung«, sagt Ursula, während sie in ihrer Handtasche kramt. »Ich habe es vergessen auszuschalten. « Sie bringt ein kleines, schwarzes Handy zum Vorschein, die Töne werden lauter und brechen plötzlich ab, als sie eine Taste drückt. Ursula lächelt verlegen. »Es tut mir wirklich leid.« Sie wirft einen Blick auf das Display, und ihre Miene verdüstert sich. »Würden Sie mich einen Augenblick entschuldigen?«
Keira und ich nicken, während Ursula, das Handy am Ohr, bereits auf dem Weg nach draußen ist.
Nachdem die Tür hinter ihr zugefallen ist, wende ich mich meiner jungen Besucherin zu. »Nun«, sage ich. »Dann wollen wir mal.«
Sie nickt kaum merklich, dann zieht sie eine Aktenmappe aus ihrer Tasche, schlägt sie auf und nimmt einen Stapel Papiere heraus, die von einer dicken Klammer zusammengehalten werden. Am Layout erkenne ich, dass es sich um ein Drehbuch handelt – fett gedruckte Wörter in Großbuchstaben gefolgt von längeren Absätzen in normaler Schrift.
Sie blättert ein paar Seiten um, presst die glänzenden Lippen aufeinander. »Ich würde gern mehr über Ihr Verhältnis zur Familie Hartford erfahren«, sagt sie dann. »Zu den beiden Mädchen.«
Ich nicke. Damit habe ich gerechnet.
»Meine Rolle ist nicht sehr groß«, erklärt sie mir. »Ich habe nur wenig Text, aber besonders am Anfang trete ich in vielen Szenen auf.« Sie schaut mich an. »Sie wissen schon. Getränke servieren und solche Sachen.«
Ich nicke noch einmal.
»Ursula meinte jedenfalls, es wäre gut, mich mit Ihnen über die Mädchen zu unterhalten, zu erfahren, was Sie von ihnen hielten. Auf diese Weise würde ich eine Vorstellung davon bekommen, was meine Motivation ist. Als Grace.« Sie spricht das Wort mit Nachdruck aus, als handelte es sich um ein mir unbekanntes Fremdwort. Dann strafft sie die Schultern und setzt ein entschlossenes Gesicht auf. »Ich spiele zwar keine Hauptrolle, trotzdem ist es mir wichtig, meine Rolle so gut wie möglich auszufüllen. Schließlich weiß man nie, wer sich den Film ansieht.«
»Natürlich.«
»Nicole Kidman hat die Rolle in Tage des Donners bloß bekommen, weil Tom Cruise sie vorher in einem australischen Film gesehen hat.«
Offenbar sollen diese Namen und Tatsachen mich beeindrucken. Ich nicke, und sie fährt fort.
»Deswegen möchte ich unbedingt von Ihnen erfahren, was Sie damals gedacht und empfunden haben. In Bezug auf Ihre Arbeit und auch in Bezug auf die Mädchen. « Sie beugt sich vor, ihre Augen sind so blau wie Muranoglas. »Sehen Sie, es ist ein großer Glücksfall für mich, dass Sie … Ich meine, dass Sie immer noch …«
»Dass ich noch lebe«, sage ich. »Ja, das verstehe ich.« Ihre Offenheit ist beinahe bewundernswert. »Was genau möchten Sie denn erfahren?«
Sie lächelt, wahrscheinlich erleichtert darüber, dass ich ihren Fauxpas übergangen habe. »Nun«, sagt sie, während sie den Text auf ihren Knien überfliegt. »Fangen wir einfach mit den langweiligen Fragen an.«
Ich bekomme Herzklopfen, frage mich, was sie wohl von mir wissen will.
»Hat Ihnen die Arbeit als Hausmädchen Spaß gemacht? «, fragt sie.
Ich atme erleichtert aus. »Ja«, antworte ich. »Eine Zeit lang.«
Sie sieht mich zweifelnd an. »Wirklich? Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das ist, Leute von morgens bis abends zu bedienen. Was hat Ihnen denn daran gefallen? «
»Die anderen waren für mich wie eine Familie. Ich habe die Kameradschaft genossen.«
»Die anderen?« Ihre Augen weiten sich erwartungsvoll. »Sie meinen Emmeline und Hannah?«
»Nein, ich meine die anderen Dienstboten.«
»Oh.« Sie ist enttäuscht. Zweifellos hatte sie schon eine größere Rolle vor sich gesehen, ein geändertes Drehbuch, in dem das Dienstmädchen Grace das Geschehen nicht von außen beobachtet, sondern als heimliches Mitglied des
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