Geheime Tochter
Spiegel putzen. Sie hält die Bediensteten schon den ganzen Tag auf Trab. Sie wissen, dass für die Heimkehr ihres ältesten Sohnes aus Amerika alles makellos sein muss. Obwohl sie anderen gegenüber jammert, dass Krishnan so weit weg von zu Hause lebt, ist sie vor allem stolz. Er hat immer große Ambitionen gehabt, schon als Kind.
Als Junge lief Krishnan gern seinem Vater hinterher, wenn der im Krankenhaus auf Visite ging, und zupfte ihm eifrig am weißen Kittel, wenn er eine Frage hatte. Alle ihre drei Söhne waren helle Köpfe, aber Krishnan hatte besonders viel Ehrgeiz. Er kam von der Schule nach Hause gerannt, wenn er in Naturwissenschaft die besteNote der ganzen Klasse bekommen oder den Mathewettbewerb gewonnen hatte. Je erfolgreicher Krishnan in der Schule war, desto ambitionierter wurde er, und schließlich träumte er von einem Medizinstudium im Ausland. Als er an einer Universität in Amerika angenommen wurde, mussten sie erst die dazu erforderlichen Mittel aufbringen: Ihr Wohlstand in Indien war in amerikanischen Dollar um einiges weniger wert. Ausländische Studenten hatten keinen Anspruch auf einen Studienkredit, und Krishnan sollte nicht durch einen Job vom Studium abgelenkt werden. Sarla kann kaum glauben, dass der Tag, an dem sie ihn zum Flughafen brachten, schon ein ganzes Jahrzehnt zurückliegt.
Sechzehn Familienmitglieder, auf vier Autos verteilt, fuhren im Konvoi zum Flughafen. Im letzten Wagen war allein Krishnans Gepäck verstaut, darunter ein großer Koffer voller versiegelter Beutel mit Teeblättern, gemahlenen Gewürzen und sonstigen Trockenprodukten. Natürlich war Sarlas größte Sorge, wie ihr Sohn sich in den paar Jahren im Ausland ernähren würde. Am Terminal verbrachten sie alle gemeinsam die Zeit bis zu Krishnans Abflug. Die Kinder liefen im Kreis herum und spielten ausgelassen kabbadi , fanden es lustig, dass ihre Stimmen von der hohen Decke widerhallten. Sarla hatte ein halbes Dutzend Thermobehälter aus Edelstahl mitgebracht, damit die Erwachsenen heißen chai und warme Snacks genießen konnten. Zu jedem Ereignis, besonders zu einem, das so wichtig war wie dieses, gehörte nun mal ein anständiges Essen. Sarla beschäftigte sich damit, alle zu verpflegen, für die Gruppenfotos in Stellung zu bringen und auf die Zeit zu achten. Sie musste sich irgendwie ablenken, um nicht sentimental zu werden. Wenn sie damals gewussthätte, dass ihr Sohn Indien für immer verlassen würde, hätte sie sich mehr Emotionen erlaubt. Am rührendsten verabschiedete sich ihr Mann von ihrem Sohn. Er, der doch normalerweise eher stoisch veranlagt war, umarmte Krishnan lange, und als er ihn losließ, waren seine Augen feucht. Der Rest der Familie wandte respektvoll den Blick ab, und selbst die Kinder wurden still.
»Keine Sorge, Papa. Ich mache dich stolz«, sagte Krishnan mit zittriger Stimme.
»Ich bin schon stolz, mein Sohn«, sagte sein Vater, »Heute bin ich sehr stolz.« Krishnan drehte sich um und winkte der Schar von Verwandten, die mitgekommen waren, um ihm alles Gute zu wünschen, zum Abschied zu. Es waren nicht nur seine Träume, die ihm für seine Reise nach Amerika Antrieb gaben.
Es stand nie außer Frage, dass er nach dem Medizinstudium nach Indien zurückkehren würde, um in die Praxis seines Vaters einzutreten und zu heiraten. Mit seinem amerikanischen Abschluss und seinen Verdienstmöglichkeiten hätte Krishnan bei den heiratsfähigen jungen Frauen die freie Auswahl. Doch als Sarla begann, sich nach einer passenden Partie für ihn umzusehen, wollte er nichts davon hören und behauptete, er könne vor lauter Arbeit fürs Studium nicht ans Heiraten denken. Dann auf einmal, kurz vor seinem Abschluss, rief er an und teilte ihnen mit, er habe selbst eine Frau gefunden, eine amerikanische Frau, die er heiraten wolle. Und er würde ihretwegen dort bleiben, das war ihnen klar, auch ohne dass er es aussprach.
Sarla und ihr Mann waren gebildete, fortschrittliche Menschen, sie waren nicht prinzipiell gegen eine Liebesheirat, aber das kam ihnen dann doch überstürzt vor. Sie wollten nicht, dass Krishnan einen Fehler beging – diese Frau stammte aus einer völlig anderen Kultur, und die Familien kannten sich nicht einmal. Als sie zur Hochzeit nach Amerika reisten, sahen sie ihre Befürchtungen bestätigt: Die Hochzeitsfeier fand in einem kleinen Rahmen statt, die gemeinsame Wohnung war seelenlos, das Essen fade. Sarla und ihr Mann fühlten sich bei ihnen wie Gäste, nicht wie eine Familie. Sie
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