Geheime Tochter
fragten sich, was mit ihrem Sohn geschehen war.
Dennoch. Jetzt, da er verheiratet ist, halten sie es für ihre Pflicht, ihren Sohn und seine Frau zu unterstützen. Als Krishnan sich vergangenes Jahr nach einer Adoptionsmöglichkeit erkundigte, sah Sarla das als eine Chance, wieder mehr Nähe herzustellen. Vielleicht würde sie ihren Sohn ja doch nicht ganz an Amerika verlieren. Bei jedem Besuch im Waisenhaus erhielt sie vom Personal inoffizielle Informationen über Neuzugänge. Als sie das kleine Mädchen mit den ungewöhnlichen Augen das erste Mal sah, sprach sie den Leiter darauf an. Diese Augen erinnerten sie an die von Krishnans Frau. Sie hatte das Gefühl, dass die Kleine gut zu ihnen passen würde.
Sarla hatte sich immer eine Tochter gewünscht, ein weibliches Wesen an ihrer Seite in diesem Haus voller Männer. Natürlich wollte sie keinen ihrer Söhne jemals eintauschen, doch als sie klein waren, hatte sie oft gedacht, wie schön es wäre, ein Mädchen zu haben, mit dem sie nicht nur ihren Schmuck teilen, sondern dem sie auch Lektionen fürs Leben beibringen könnte. Sie wusste, was es heißt, als Frau in Indien zu leben. Auch wenn die Macht, die Frauen innehaben, nicht immer offen zu erkennen ist, zeigt sie sich doch im festen Griff der Matriarchinnen, die nach wie vor in den meisten Familien herrschen. Es war für Sarla nicht einfach, sich auf dem weiblichen Weg durchzuschlagen. Inzwischen ist sie zur Meisterin in dieser Kunst geworden, aber eine Meisterin ohne Schülerin.Sie hatte gehofft, dass eine ihrer indischen Schwiegertöchter diese Rolle einnehmen könnte, doch irgendwie eigneten sie sich ebenso wenig dafür wie Somer. Und als sie Kinder bekamen, hielten sie sich an ihre eigenen Mütter und Sarla blieb wieder mal allein unter Männern.
Aber jetzt, so denkt Sarla mit Blick auf die Uhr, während sie Krishnans Ankunft erwartet, bekommt sie endlich ihre Enkelin.
14
Monsunzeit
Bombay, Indien – 1985
Somer
An ihrem ersten Morgen in Bombay wird Somer mit Bauchschmerzen wach. Sie rollt sich in eine andere Position, aber es hilft nichts. Verdammt . Sie hat sich beim Essen mit Krishnans Familie am Abend zuvor extra zurückgehalten, aber anscheinend verträgt sie die scharfen Gewürze nicht. Und das war nicht das Einzige, weshalb sie sich fremd fühlte. Alle aßen mit den Fingern, wohingegen sie verlegen um eine Gabel bat. Sie konnte nur einen Teil der Unterhaltung am Tisch verfolgen, weil Krishnans Angehörige immer wieder ins Gujarati fielen. Es war, als würde sie Ski fahren und vom Schnee plötzlich auf ein Stück Rasen geraten. Sie war gestrandet, und Krishnan dachte nicht daran, für sie zu dolmetschen.
Trotzdem, das alles spielt keine Rolle, sagt sie sich. Sie sind nur aus einem einzigen Grund hier – um Asha zu holen und sie nach Hause zu bringen. Konzentrier dich einfach darauf. Mach dir über den Rest keine Gedanken. An diesem Nachmittag haben sie im Büro des Adoptionsamtes einen Gesprächstermin, der letzte Schritt im Genehmigungsverfahren. Somer spürt plötzlich, wie es in ihrem Magen rumort, und schafft es gerade noch rechtzeitig zur Toilette.
Sie sind zehn Minuten vor dem Termin im Adoptionsamt und warten dann weitere vierzig Minuten im Empfangsbereich. Somer schaut auf ihre Armbanduhr und auf die Uhr über der Tür.
»Entspann dich, die wissen, dass wir da sind«, sagt Krishnan. »So läuft das hier nun mal.«
Schließlich werden sie in ein Büro geführt, in dem es nach kaltem Tabakrauch und Schweiß riecht.
» Achha , Mr und Mrs Thakkar, namaste. « Der Mann, der ein vergilbtes kurzärmeliges Oberhemd und eine kurze Krawatte trägt, verbeugt sich leicht vor ihnen. »Bitte, machen Sie es sich bequem.« Er deutet auf zwei Stühle vor dem Schreibtisch.
»Mr Thakkar, Sie sind von hier, richtig?«
»Ja«, sagt Krishnan. »Ich bin in Churchgate aufgewachsen und habe meinen Bachelor of Science am Xaviers College gemacht.«
»Ah, Churchgate. Meine Tante lebt dort.« Der Mann stellt ihm eine Frage in einer anderen Sprache. Hindi? Krishnan antwortet ihm in derselben Sprache, und sie scherzen eine Weile, ohne dass Somer ein Wort versteht. Der Beamte wirft einen Blick in seine Akte, sieht dann Somer lange an und wendet sich wieder an Krishnan. »Und Ihre Frau?«, sagt er mit einem Grinsen. »Sie haben sie dort kennengelernt, Amerika? Kalifornisches Mädchen, was?«
Sie hört Krishnan antworten, doch das einzige Wort, das sie versteht, ist Doktor .
Der Beamte schaut wieder in die Akte
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