Geheime Tochter
und fragt ausdruckslos, als würde er ablesen: »Keine Kinder?«, und dann mit direktem Blick auf Somer: »Keine Babys?«
Ihre Wangen werden rot aus vertrauter Scham, hier in diesem Land, wo Fruchtbarkeit so gefeiert wird, wo jede Frau auf beiden Hüften je ein Kind trägt. Sie schüttelt den Kopf. Nachdem er wieder ein paar Worte mit Krishnan gewechselt hat, sagt der Beamte, sie sollen am nächsten Morgen wiederkommen, um Genaueres zu besprechen. Krishnan nimmt ihren Arm und führt sie aus dem Gebäude.
»Was war das jetzt?«, sagt sie, sobald sie draußen sind.
»Nichts«, sagt er. »Indische Bürokratie. Das läuft hier immer so.« Er winkt ein Taxi heran.
»Was meinst du mit ›so‹? Was war denn da los? Erst lassen sie uns eine Stunde warten, der Typ hatte unsere Akte eindeutig nicht mal gelesen, und dann spricht er kaum mit mir!«
»Weil du –«
»Weil ich was?«, fragt sie ihn gereizt.
»Hör zu, hier funktionieren die Dinge anders. Ich weiß, wie ich die Sache angehen muss, vertrau mir einfach. Du kannst nicht hierherkommen und mit deinen amerikanischen Vorstellungen –«
»Ich bin mit gar nichts hergekommen.« Sie steigt ins Taxi, knallt die Tür zu und spürt, wie der ganze Wagen erbebt.
Als sie am nächsten Morgen wieder zum Adoptionsamt kommen, wird ihnen gesagt, dass sich das Genehmigungsverfahren verzögert. Somer spürt all ihre Zweifel wieder über sie hereinbrechen. Sie versucht, sie zu verdrängen, doch sie umkreisen sie wie die hartnäckigen Mücken, die am Obststand an der Ecke die reifen Mangos umschwirren. Sie gehen jeden Tag wieder zum Amt, manchmal zweimal am Tag, um die Sache irgendwie zu beschleunigen. Nach jedem Besuch ist Somer frustrierter. Sie sieht die Blicke der Mitarbeiter dort, die Skepsis, mit der sie ihre Tauglichkeit als Mutter abschätzen, hört, wie sich ihr Tonfall verändert, wenn sie Krishnan ansprechen und nicht sie.
Es ist Monsunzeit. Unaufhörlich rauscht Regen herab, bis die Straßen sich in reißende Bäche voller Geröll und Abfall verwandeln. Nie zuvor hat Somer solche Regenfälle gesehen, noch etwas, was sie seit ihrer Ankunft in Bombay zum ersten Mal erlebt. Indien ist ein Angriff auf ihre Sinne: Gerüche, die sie jählings überwältigen, und eine Hitze, die sie schmecken kann, dick wie Staub auf der Zunge. Sie fühlt sich machtlos gegenüber der indischen Bürokratie, und wie eine zusätzliche Bestrafung halten die sintflutartigen Regenfälle sie in der Wohnung von Krishnans Eltern gefangen.
Zahlreiche Menschen gehen in der Wohnung aus und ein: Krishnans Großeltern, seine Eltern und seine zwei Brüder mit ihren Frauen und Kindern – vierzehn Personen insgesamt. Gegenüber wohnt Krishnans Onkel, mit einer ähnlich umfangreichen Familie. Die Eingangstüren der beiden Wohnungen sind stets unverschlossen und stehen häufig weit offen, sodass man sich wie in einer einzigen großen und unübersichtlichen Behausung fühlt, in der es ständig von Menschen wimmelt. Krishnans Verwandte sind höflich, bieten ihr laufend Tee und irgendwelche Kleinigkeiten an, aber Somer fällt auf, dass sie verstummen, wenn sie den Raum betritt. Sosehr sie sich auch bemüht, sie fühlt sich in ihrer Gegenwart noch immer unbehaglich.
Außer der Familie sind da noch die Bediensteten: eine, die sich tief geduckt von Zimmer zu Zimmer bewegt und mit einem Reisigbesen die Böden fegt; eine andere, die jeden Tag kommt, um mit der Hand die Wäsche zu waschen und sie auf dem Balkon aufzuhängen; der Koch; der Postjunge; der Zeitungsjunge, der Milchjunge und noch etliche andere. Somer gewöhnt sich daran, jede Stunde mehrmals die Türglocke zu hören, und lernt schließlich,die Klingelei als unwesentliches Geräusch des normalen Tagesablaufs auszublenden. Die indische Realität kollidiert mit den Bildern in ihrem Kopf, ihren Hoffnungen und Erwartungen. Während sich ein Tag an den nächsten reiht, sehnt sie sich zunehmend nach den schlichten Behaglichkeiten daheim: eine Schüssel Cornflakes, eine eiskalte Coca-Cola, ein Abend allein mit ihrem Mann.
Je länger Somer den Mann beobachtet, den sie zu kennen glaubt, desto mehr wird ihr klar, dass er eine Seite hat, die ihr völlig fremd ist. Dieser Krishnan trägt von morgens bis abends weiße fließende Langhemden, trinkt milchigen Tee statt schwarzen Kaffee und isst geschickt mit den Händen. Ihm macht das völlige Fehlen von Privatsphäre nicht das Geringste aus. Sie ist befremdet von diesem Menschen, der den Lärm eines überfüllten
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