Geheime Tochter
Haushalts zu genießen scheint, der so ganz anders ist als der stille Mann, den sie in Stanford kennenlernte, der in einem spartanischen Zimmer lebte, mit bloß einer Matratze auf dem Boden und einem alten Schreibtisch. Somer fragt sich langsam, ob sie ihn überhaupt kennt.
15
Sieg
Dahanu, Indien – 1985
Kavita
Das Baby gluckst, während Kavita ihm die pummeligen Froschbeinchen mit Kokosnussöl einreibt. Der Kleine zappelt und wedelt heftig mit den Ärmchen in der Luft, als wolle er seiner Mutter für diese tägliche Wohltat Beifall spenden. Sie massiert ihm sanft den zarten Körper, streckt zuerst ein Beinchen ganz aus, dann das andere. In Kreisen reibt sie ihm den Bauch, der kaum größer ist als ihre Handfläche. Dies ist der einzige Zeitpunkt am Tag, wo sie sich am Anblick jedes erstaunlichen Teils seines Körpers ergötzen kann. Sie wird nie müde, ihn anzuschauen, jede vollkommene Einzelheit zu bestaunen: die sanft geschwungenen Wimpern, die Grübchen an Ellbogen und Knien. Sie badet ihn in einem Holzkübel, gießt ihm mit einem Becher warmes Wasser über den Körper und achtet darauf, dass er nichts in die Augen bekommt. Als sie ihn fertig angezogen hat, kommt ihre Mutter, um ihr zu sagen, dass das Abendessen fertig ist. Kavita wohnt seit der Geburt des Kleinen bei ihren Eltern, genießt den Luxus, sich ganz ihrem Baby widmen zu können, ohne sich um Haushaltspflichten kümmern zu müssen.
Als sie ins Wohnzimmer tritt, sieht sie Jasu dort sitzen, das Haar frisch geölt und gekämmt. Er steht mit einem breiten Grinsen auf, um sie beide zu begrüßen. Auf dem Tisch zwischen ihnen sieht sie einen frischen Jasminkranz, den er ihr für ihr Haar mitgebracht hat. Gestern war es eine Schachtel mit Süßigkeiten. Er kommt seit fast zwei Wochen jeden Tag her und bringt ihr immer irgendetwas mit. Als sie jetzt auf ihn zugeht, staunt sie über sein Lächeln, das so breit ist wie seine Arme, die er nach seinem Sohn ausstreckt. »Sag deinem Papa hallo«, sagt sie und reicht ihn Jasu. Unsicher, wie er mit einem Neugeborenen umgehen soll, hält er das Baby zärtlich, beinahe zaghaft.
Jasu langt beim Abendessen hungrig zu, schlingt große Bissen in sich hinein, viel zu schnell, als dass er den Geschmack genießen könnte. Sie vermutet, dass er sonst nicht viel zu essen bekommt, aber er drängt sie nicht, nach Hause zu kommen. Er hat ihr gesagt, dass er es für richtig hält, wenn sie die üblichen ersten vierzig Tage bei ihrer Mutter verbringt. Nicht alle Ehemänner sind in dieser Zeit so geduldig. Während sie ihren Sohn in den Armen seines Vaters sieht, denkt sie, was der Junge doch für ein Glück hat, was für ein umhegtes Leben er führen wird. Morgen versammeln sich die Verwandten zum namkaran , dem Fest seiner Namensgebung. Alle waren hocherfreut über die Geburt ihres ersten Sohnes und brachten ihr zur Feier des Anlasses neben den traditionellen Süßigkeiten auch neue Anziehsachen für das Baby und Fencheltee, um Kavitas Milchproduktion anzuregen. Sie überhäuften sie mit Geschenken, als wäre es Kavitas und Jasus erstes Baby, ihr erstes Kind. Was ist mit den ersten beiden, die ich in meinem Bauch getragen, zur Welt gebracht und in den Armen gehalten habe?
Aber davon spricht keiner, nicht mal Jasu. Nur Kavita spürt den Verlust wie ein schmerzendes Loch im Herzen. Sie sieht den Stolz in Jasus Augen, während er seinen Sohn hält, und ringt sich ein Lächeln ab, während sie einstilles Gebet für dieses Kind spricht. Sie hofft, sie kann ihrem Sohn das Leben bieten, das er verdient. Sie betet, dass sie ihm eine gute Mutter sein wird, dass in ihrem Herzen noch genug Mutterliebe für ihn übrig ist, dass diese Liebe nicht zusammen mit ihren Töchtern gestorben ist.
Am nächsten Morgen herrscht hektische Betriebsamkeit im Haus. Kavitas Mutter ist früh aufgestanden, um jalebis zu backen, die klebrigen süßen Kringel, die zu jedem Fest dazugehören. Am laufenden Band treffen Familienangehörige ein, die Kavita und Jasu gratulieren und beschenken. Als Jasus Eltern kommen, nehmen sie Kavita beiseite und überreichen ihr ein Päckchen, das in Packpapier eingewickelt und mit einer Kordel zugebunden ist.
»Das ist ein neuer kurta-pajama für den Kleinen«, sagt Jasus Mutter. »Den kann er zum namkaran tragen.« Sie lächelt so breit, dass ihre fehlenden Backenzähne zu sehen sind. Kavita öffnet das Paket, und zum Vorschein kommen ein kastanienbraunes, mit Goldfäden besticktes Seidenlanghemd mit Hose, passend dazu
Weitere Kostenlose Bücher