Geheime Tochter
eine cremefarbene, mit kleinen runden Spiegeln bedeckte Weste und ein Paar unglaublich kleine spitze elfenbeinfarbene Schühchen. Kavita streicht über den glatten Stoff. Es ist echte Seide, und die Stickerei ist Handarbeit. Alles ist wunderschön, unpraktisch, ein Luxus und noch dazu einer, den Jasus Eltern sich nicht so ohne Weiteres leisten können. Sie blickt auf, um ihrer Schwiegermutter zu danken, und sieht Stolz in den Augen der älteren Frau. »Wir sind überglücklich, beti «, sagt Jasus Mutter und drückt Kavita in einer spontanen Umarmung an ihren großen Busen. »Möge euer Sohn ein langes Leben haben und euch viel Glück bescheren. So viel Glück wie Jasu uns.«
» Hahnji, sassu . Danke. Ich werde ihn jetzt damit ankleiden.« Kavita kann sich nicht erinnern, ihre Schwiegermutter je so großzügig oder emotional erlebt zu haben. Als sie sich abwendet, spürt sie, wie ihre Wangen zu glühen beginnen und sich ihr die Kehle zuschnürt. Sie drängt sich durch die Schar von Gästen, die alle chai trinken und das Baby bewundern. In den Wochen, die sie allein mit ihrem Sohn war, hat sie nichts als Liebe für ihn empfunden. Aber die Art, wie er jetzt von den anderen vergöttert wird, lässt sie frösteln, und die schamlose Feier ihm zu Ehren füllt ihren Mund mit einem bitteren Geschmack, der Bitterkeit von rohem grünem Holz.
Als der pandit zur Zeremonie eintrifft, versammeln sich alle Verwandten im überfüllten Wohnzimmer um ihn herum. Jasu und Kavita lassen sich neben dem pandit auf dem Boden nieder, und Jasu hält das Baby auf dem Schoß. Der pandit zündet das zeremonielle Feuer an und spricht Gebete zu Agni, dem Gott des Feuers, um die Feier zu reinigen. Er fängt an zu chanten, um die Geister der Ahnen anzurufen, und bittet sie, dieses Kind zu segnen und zu behüten. Die melodische Stimme des Priesters ist beruhigend. Kavita blickt tief in die Flammen und wird zurückversetzt auf die Steinstufen, wo sie morgens ihre puja verrichtet. Der Geruch von Weihrauch, vermischt mit ghee , steigt in die Luft, und sie schließt die Augen. Bilder schießen ihr durch den Kopf – das Gesicht der daiji zwischen ihren Knien, das rot beschriftete Schild an der Tür, das scheppernde Eisentor des Waisenhauses.
»Genaue Zeit und Datum der Geburt?«, hört sie den Priester aus der Ferne fragen. Jasu antwortet ihm, und der pandit konsultiert seine Astrologiekarte, um das Horoskop des Jungen zu bestimmen. Kavita spürt, wie sich ihr Körper noch stärker verkrampft. Diese Deutung wird das ganze Leben ihres Sohnes bestimmen – seine Gesundheit, seinen Wohlstand, seine Heirat und heute seinen Namen. Nach einigem Nachdenken blickt der pandit zu Jasus Schwester auf, die neben ihm sitzt. »Wähle einen Namen aus, der mit V beginnt.« Alle Augen im Raum richten sich auf sie. Sie überlegt einen Moment, dann erscheint ein Lächeln auf ihrem Gesicht, sie beugt sich zu dem Baby hinab und flüstert ihm den ausgewählten Namen ins Ohr.
»Vijay«, sagt sie strahlend. Jasu wendet sich den anderen zu und hält seinen Sohn hoch, damit jeder ihn sehen kann. Der pandit nickt beifällig, und alle anderen jubeln, wiederholen immer wieder den Namen. Irgendwo im allgemeinen Lärm hört Kavita eine einsame Stimme, das durchdringende Schreien eines Neugeborenen. Sie blickt ihren Sohn an, der friedlich schläft. Ihre Augen huschen durch den Raum, um zu sehen, woher das Geschrei kommt, doch sie sieht keine anderen Babys. Jasu legt den kleinen Vijay in eine mit Girlanden aus leuchtend orange-gelben Ringelblumen und weißen und roten Chrysanthemen geschmückte Wiege und fängt an, sie zu schaukeln. Die anderen Frauen im Raum treten langsam vor und stellen sich im Kreis um die Eltern mit ihrem Kind. Kavita wird eingehüllt von ihren singenden Stimmen, doch selbst das kann das schrille Geschrei, das sie nach wie vor hört, nicht übertönen. Ihr kommt der beunruhigende Gedanke, dass vielleicht alles im Leben ihres Sohnes für sie einen bittersüßen Beigeschmack haben könnte.
Sie blickt in Vijays Gesicht, um zu sehen, ob sein neuer Name zu ihm passt. Er bedeutet Sieg.
16
Brüskierung
Bombay, Indien – 1985
Somer
Ein leises Klopfen an der Tür weckt Somer aus dem Schlaf. Sie hört Krishnan irgendetwas murmeln, hört dann die Tür aufgehen und Füße über den Boden schlurfen. Durch halb geöffnete Lider sieht sie einen Bediensteten mit einem Tablett auf das Bett zukommen. Was macht der hier, wo wir noch nicht mal richtig wach sind? Als ihr
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