Geheime Tochter
einfällt, wie dünn ihr Nachthemd ist, deckt sie sich rasch zu und wartet darauf, dass Krishnan den Mann wieder verscheucht. Stattdessen setzt er sich auf, schiebt sich ein stützendes Kissen in den Rücken und nimmt eine Tasse Tee vom Tablett.
»Möchtest du auch?«, fragt er sie.
»Was? Nein.« Somer dreht sich um und schließt die Augen. Sie hört das Klimpern von Porzellantasse und Löffel und den Austausch einiger Worte, dann wieder das Schlurfen von Füßen, ehe die Tür endlich geschlossen wird.
»Ah, Tee im Bett«, sagt Krishnan. »Eine der großen Wonnen des indischen Lebensstils. Solltest du auch mal probieren.«
Somer vergräbt das Gesicht im Kopfkissen. Gibt es denn hier überhaupt keine Privatsphäre? Kein Bereich unseres Lebens, in das deine Familie oder eure Bediensteten nicht eindringen? Doch sie schluckt die Worte herunter und sagt stattdessen:»Was machen wir heute?« Sonntag ist der einzige Wochentag, an dem das Adoptionsamt geschlossen ist.
»Ein paar Freunde von mir haben angerufen und gefragt, ob ich mit ihnen Cricket spiele, wenn du nichts dagegen hast. Ich spiele bestimmt fürchterlich, aber es wäre schön, sie zu sehen. Alte Schulfreunde, ein paar von ihnen habe ich seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Meine Mom kann mit dir shoppen gehen oder so, wenn du Lust hast.«
Somer steht auf dem Balkon und blickt hinaus auf den trägen Ozean, dessen graue Wellen gegen die Strandpromenade schwappen. Es ist heiß und schwül, aber zumindest hat der Regen eine Pause eingelegt. Am ersten klaren Tag seit Wochen unternimmt Krishnan etwas allein. Bei dem Gedanken, heute schon wieder zu Hause zu bleiben, hat Somer das Gefühl zu ersticken und noch abschreckender findet sie die Aussicht, den Tag mit ihrer Schwiegermutter zu verbringen. Sie beschließt, allein einen Spaziergang zu machen, dem lähmenden Druck dieser Wohnung zu entfliehen.
Kaum ist sie aus dem Gebäude getreten und unter den wachsamen Augen des Pförtners durch das hohe Tor entschwunden, wird Somer von einem Freiheitsgefühl erfasst. Der Bahnhof Churchgate ist ein Stück die Straße hoch, und an der gegenüberliegenden Ecke preist ein Plakat an einem Sandwichladen BURGER an. Der Gedanke an einen Burger nach zwei Wochen indischem Essen ist verführerisch. Sie geht zu dem Bestellfenster und sagt: »Zwei Hamburger bitte, mit Käse.« Sie will einen sofort essen und den anderen für später aufbewahren, um die Monotonie aus Curry und Reis zu durchbrechen.
»Keine Hamburger, Madam. Nur Hammelburger.«
»Hammel?« Im Sinne von Lamm?
»Ja, sehr lecker, Madam. Sie werden mögen, garantiert.«
»Okay.« Sie seufzt. »Zwei Hammelburger bitte.«
Der Burger ist nicht zu vergleichen mit dem, was sie gewohnt ist, aber Somer muss zugeben, dass er ziemlich gut schmeckt. Sobald sie angenehm gesättigt ist, spaziert sie weiter zur Strandpromenade, auf der sich jetzt Straßenverkäufer und Fußgänger drängen. Männer sind in Gruppen unterwegs, lachen, kauen paan und spucken den roten Saft auf den Gehweg. Sie sieht einen schnurrbärtigen Mann, der sie beäugt, schamlos auf ihre Brüste starrt und seinen Freund anstupst. Somer verschränkt peinlich berührt die Arme vor der Brust, und die Männer brechen in Gelächter aus. Widerliche Schweine.
Sie geht weiter, versucht, tief zu atmen und auf das Wasser zu schauen. Doch immer wieder ist sie gezwungen, die Augen auf die Scharen von Menschen zu richten, die sie umsteuern muss. Sie erwartet, dass die Männer beiseitetreten und sie vorbeilassen, ihr in dem Gewimmel Platz machen, aber nichts da. Wieder und wieder muss sie sich zwischen anderen Leuten förmlich hindurchzwängen. Als sie auf eine besonders widerwillige Gruppe trifft, spürt Somer plötzlich, wie sich ein Körper gegen ihren Po presst und eine Hand ihre Brust drückt. Sie fährt blitzschnell herum und sieht zwei junge Männer kichern, von denen einer fleckige Zähne hat und Luftküsse in ihre Richtung macht.
Somer spürt, dass sie allmählich panisch wird, während sie sich weiter einen Weg durch das Gedränge bahnt und nach einer Öffnung sucht, durch die sie entkommen kann. Auf dem Marine Drive mit seinen sechs Spuren fließt der Verkehr anscheinend ohne Unterbrechung, daher schlängelt Somer sich Spur für Spur zwischen den Autos hindurch, die sie anhupen und manchmal nur knappverfehlen. Dann biegt sie in eine Seitenstraße und macht sich mit raschen Schritten auf den Heimweg. Sobald ihre Angst sich gelegt hat, treten Empörung und
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