Geheimes Verlangen
Stunden vor seinem Tod ihre Hand gehalten hat. Sie war durch die kühle Abenddämmerung gelaufen, um ihn noch einmal zu sehen, hatte einen Strauß welker Rosen und einen Schwall kalter Abendluft mit an sein Krankenbett gebracht. »Deine Hand ist kalt«, hatte ihr Onkel gesagt. »Ja«, hatte sie erwidert. »Draußen ist ja auch Winter.« Das waren die letzten Worte gewesen, die die zwei gewechselt hatten – zumindest kann sie sich sonst an nichts erinnern. Sie ist sich fast sicher, dass ihr Onkel sich darüber gefreut hat, das Wetter noch ein letztes Mal zu spüren, noch einmal in seinem Krankenzimmer einen schwachen Nachhall der Elemente zu erleben.
»Wollen wir gehen, oder sollen wir uns lieber setzen?«
Sie wendet den Blick vom Wasser ab, sieht ihn an, sein Gesicht ist von der Kälte ganz gerötet. Sie hat seinen Anblick schon immer geliebt – denn seine ganze Erscheinung hat, zumindest für sie, etwas Beruhigendes. Etwas, das sie an die geschickte Fahrt eines schlanken Kanus auf einem schattigen Wasserlauf erinnert. »Lass uns gehen.«
Er lächelt, ist sofort einverstanden – da er den Drang verspürt, sich zu bewegen. »Und vergiss nicht«, sagt er, »wenn uns jemand sieht: Wir haben uns ganz zufällig hier getroffen. Ich bin nur hier draußen, um ein bisschen spazieren zu gehen.«
»Nein, vergesse ich nicht«, sagt sie.
»Tut mir leid«, sagt er, ohne seine Wort zuvor bedacht zu haben, und sie lächelt schweigend. Es tut ihm wirklich leid: Ja, er bedauert irgendwie jeden einzelnen Aspekt ihrer Bekanntschaft. Manchmal wünscht er, dass er ihr nie begegnet wäre, dass er die Zeit bis zu dem Tag zurückdrehen könnte, bevor sie sich ihm wie ein Splitter unter die Haut gebohrt hat, dass er ihr irgendwie ausweichen, sie aus seinem Dasein verbannen könnte. Es fällt ihm schwer, sich vorzustellen, wie er gelebt hat, bevor sie in seine Welt gestürmt ist. Aus seiner Sicht ist sie wie ein Teufelchen, wie eine Spionin vom Himmel gefallen – mit einem stacheligen Schwanz oder einem aufgebauschten Seidenfallschirm: aus dem Nichts, und er selbst ist der Zielpunkt, der ihr einprogrammiert ist. Bisweilen fühlt er sich wie ein gejagter Mann, von der Zeit wie von Sandpapier wundgescheuert, ein Mann, der seine Tage in Angst verbringt. Doch nichts von alledem erzählt er ihr aus Furcht, dass sie von ihm fortgeht. Sie hat von Anfang an stets betont, dass er bloß ein Wort zu sagen braucht. Kein Tag vergeht, an dem er dieses Wort nicht in der Hand hält, es sich auf der Zunge zergehen lässt, daran herumzupft, seine katastrophale Macht spürt. Er gibt sich redlich Mühe, sich sein altes Leben vorzustellen. Sicher wäre er glücklich, wenn er ihr nie begegnet wäre, denkt er, nur dass er nicht mehr weiß, ob sein damaliger Zustand die Bezeichnung »glücklich« verdiente.
Sie wirft ihrem Hund, dem der nasse Sand und die Gischt nichts ausmachen, immer wieder einen Stock ins Wasser. Sie wahrt Abstand, wie er es von ihr verlangt, damit niemand sie in einer verfänglichen Situation überrascht. »Tut mir leid«, sagt er wieder, weil die Fäden der Frustration, in die seine Gedanken eingesponnen sind, sich immer enger zusammenziehen, seine Nerven blank liegen. »Alles ist mein Fehler.«
Sie hebt abermals den Stock auf und schleudert ihn ins Wasser. Sandklumpen wirbeln durch die Luft, und der Hund jagt davon. Er weiß, dass der Fehler nicht allein bei ihm liegt, aber das sagt sie ihm jetzt nicht wieder. »Tja«, sagt sie und verfolgt mit ihrem Blick den Hund.
»Ich möchte dich nicht verlieren.« Er kann nicht plötzlich wieder ein Leben führen, von dem er nicht einmal mehr weiß, wie es sich damals angefühlt hat. »Ich weiß nicht, was passieren wird. Nichts Gutes, vermute ich.«
Sie wirft ihm einen Blick zu, schaut dann blinzelnd in das milchige Licht. »Seit dem Tag, als alles zwischen uns angefangen hat, redest du unentwegt von dem Tag, da alles zu Ende sein wird.«
Vergänglich: so hatte er sich früher einmal genannt, ein Wort, das den beiden den Atem geraubt hatte, wenn er es laut ausgesprochen hatte. Jener undatierte letzte Tag ist ihm zum Vertrauten geworden, zum Raben, der ihm unablässig folgt. »Ich werde dich vermissen. Ich werde dich nie wieder sehen, nicht wahr?«
»Nein«, sagt sie: das wird er nicht. »Weil ich dich ebenso vermissen werde.«
»Wenn die Dinge anders stünden …«, würde er gerne fortfahren, aber sie dreht sich nur nach dem Hund um, der im Wasser herumtollt, und sagt: »Die Dinge stehen
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