Geheimes Verlangen
Bücherregals mit klaffenden Lücken. Dies alles ist in der Mitte des Zimmers zusammengeschoben und notdürftig mit einer Plane abgedeckt. Noch dominiert an den Wänden der seegrüne Anstrich, doch die Farbe in der Farbwanne ist von jenem Blau, wie Jugendliche es lieben, einer Farbe, die ihn an seine Schulzeit erinnert. »Wieso kommst du darauf, den Raum plötzlich farblich zu verändern?«, fragt er herrisch, weil etwas in ihm denkt, dass sie ihn vorher hätte fragen sollen. Sie weiß, dass er dieses Haus liebt, wie viel es ihm bedeutet. Für ihn ist es das Schönste, die Eingangstür hinter sich zu schließen und sich völlig losgelöst von seinem Alltag hier aufzuhalten. Jede Veränderung ist für ihn wie der Verlust eines Stücks Heimat, erschüttert den Boden, auf dem er steht. Er sieht sich schon wie ein überflüssig gewordenes Möbel neben dem Fahrrad und der Reisetasche in einer Ecke abgestellt. Ein schmerzlicher Gedanke, dass ihr Leben auch ohne ihn seinen gewohnten Gang gehen würde.
»Wegen des Hundes«, sagt sie mit größter Selbstverständlichkeit. »Ich habe gelesen, dass Hunde in einer vorwiegend blauen und gelben Welt leben. Sie können kein Rot sehen, Rot erscheint ihnen grau. Sie können aber auch kein Grün sehen, Grün erscheint ihnen gelb. Aber Blau – das können sie sehen. Deshalb streiche ich die Wände hier blau. Ich möchte, dass der Hund die Dinge so sieht, wie sie wirklich sind.«
Er sieht sie mit einem herzlichen Lächeln an. Der fragliche Hund hat bei seiner Ankunft rücklings auf dem Rasen gelegen, die umbrafarbenen Augen verdreht und ihn mit einem ebenso frechen wie angewiderten Jaulen begrüßt. Er sagt: »Aber ich habe irgendwo gelesen, dass es Farben gibt, die weder Menschen noch Hunde sehen können, sondern nur Insekten und Reptilien und Vögel. Wenn du die Wände in diesem Zimmer also blau streichst, dann mag es sein, dass wir und der Hund dies so sehen. Trotzdem gibt es keine Gewähr, dass wir die Dinge so sehen, wie sie tatsächlich sind. Wenn sich zum Beispiel ein Adler oder eine Tarantel oder ein Krokodil in dieses Zimmer verirren, wie würde diesen Tieren wohl die Farbe der Wände hier erscheinen?«
»… keine Ahnung. Für die könnte ich ein anderes Zimmer farblich umgestalten.«
»Ja, das solltest du unbedingt tun. Du bist eine Schwarze Witwe. Du bist mein Geier, meine Schlange. Warum malst du dein Schlafzimmer nicht aus wie eine Höhle?«
Sie hebt den Kopf, mustert ihn, senkt dann den Blick und dreht den Pinsel in der Hand: ein guter, ein teurer Pinsel, den sie eigentlich in Wasser legen müsste. Sie verspürt ein Prickeln hinter den Augen, ein Ziehen an den Lidern. Sie hat das Gefühl, dass sie aus Porzellanscherben, aus Kieseln besteht, die zu Boden rieseln. Ja, sie hat die Tage bis zu seiner Rückkehr gezählt, doch so hatte sie sich das nicht vorgestellt. Dennoch kann sie nicht sagen, dass sie überrascht ist. Schon seit einiger Zeit kämpfen sie mit kleinen Dolchen, wann immer sie sich sehen, selbst nach längeren Trennungen. Dabei will jeder sich nur schützen, die eigenen Wunden verbergen, dem anderen Verletzungen beibringen, die zeigen, wie sehr jeder der beiden leidet. Sie ist plötzlich unsäglich traurig über das, was sie verloren haben: die süßen Momente in dunklen Ecken, das unaufhörliche Brabbeln der Erregung, die ständige Ungeduld. Es ist schrecklich, an jene weit zurückliegenden Tage zu denken, als er sie dreimal und dann gleich noch ein weiteres Mal angerufen, als er noch Kopf und Kragen für sie riskiert hat. Als er sich so sehr nach ihr verzehrt hat, dass er nicht mehr jener Mann war, der er eigentlich ist. Sie will über diese Zeit nicht sprechen, sie will nicht weinen. Sie blickt an sich hinunter – ungewaschen, ungepflegt, in alten Kleidern, und lächelt finster: All die Monate, die sie sich bemüht hat, besser auszusehen, als es tatsächlich der Fall ist, sind in den vergangenen Minuten verpufft. Der Anblick, den sie bietet, muss ihn ja abstoßen, doch vielleicht spielt das ohnehin schon keine Rolle mehr. Sie holt mutig Luft, blinzelt ihn durch ihre fransigen Haare an und sagt: »Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dich wiederzusehen. Und ich habe dich vermisst – ich vermisse dich auch jetzt -, werde dich immer vermissen, wenn du nicht mehr da bist. Ärgerst du dich darüber, dass du zurückgekommen bist?«
»Nein«, sagt er kaum hörbar. Ein Tor öffnet sich, ein Gitter fällt, das Blut gerät in Wallung. Er sinkt auf die
Weitere Kostenlose Bücher