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Geheimes Verlangen

Geheimes Verlangen

Titel: Geheimes Verlangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Redfern
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Luft; seine Handgelenke, die aus den Ärmeln seines Mantels ragen, erinnern ihn an Muschelschalen. Sie hat einmal für seine Handgelenke ein Wort gefunden, das ihm inzwischen entfallen ist. Ja, sie hat ihn im Übermaß mit Bewunderung beschenkt, ihn in einen kostbaren Mantel reiner Anbetung gehüllt, ihn jung und schön gemacht. Wenn er heute an sich selbst denkt, gelten seine Gedanken daher nicht mehr jenem Menschen, der er früher einmal gewesen ist. Er ist ein von allem Staub, allen mürrischen Ecken und Kanten befreites Wesen. Er strahlt von innen heraus. Aber es gibt in seinem Herzen auch einen dunklen Fleck, ein winziges Leck, das früher nicht dort gewesen ist. Mag er auch glitzern, dieser kleine dunkle Fleck lässt sich dennoch nicht leugnen.
    Er starrt auf das Wasser unter sich, spürt im Nacken die Morgenbrise. Wann immer er auf diesen Fluss blickt, ist er von dessen majestätischen Dimensionen zutiefst beeindruckt. Ein herrlicher Wasserweg, gewaltig genug, um all die Jahrhunderte des Kriegs, der Kunst und des Wagemuts fortzutragen. Von seinem Standort aus betrachtet, wirken die Gebäude zu beiden Seiten des Flusses wie Puppenhäuser. Hinter ihm rollt der Verkehr, gelegentlich kommt ein Fußgänger vorbei. Doch genau wie der Fluss, den sie überspannt, ist auch die Brücke so großzügig bemessen, dass man sich dort nie gestört fühlt. Nichts kommt ihm hier wirklich nahe, nichts irritiert ihn. Vögel schweben über den Ufermauern, davor flache Boote und Treibgut, weiße Vögel, vielleicht Möwen. Wäre sie hier, könnte sie es ihm ohne Zögern sagen. Tiere und Bäume sind ihre Domäne; sie kennt sogar ihre poetischen Namen. Außerdem weiß sie, wie man Dinge fertigt oder repariert. Aus seiner Sicht ein merkwürdig antiquiertes Wissen. In der Welt von heute braucht man nicht mehr zu wissen, wie die Dinge heißen oder wie sie gemacht werden. Sicher beschäftigt sie sich auch noch mit anderen Sachen, Sachen, die nicht so nüchtern, sondern tiefgründiger sind: Doch sie haben fast nie über etwas anderes als ihre eigene missliche Lage gesprochen, jene schwer fassbare Beziehung, durch die sie miteinander verbunden sind. Alles zwischen ihnen – nichts als Oberfläche. Ja, sie liebt ihn mit geradezu hündischer Ergebenheit, weder sonderlich intelligent noch stilvoll. Sie hat ihn so reichlich mit Zuneigung bedacht, dass diese Zuneigung jetzt auf Schritt und Tritt eine klebrige Spur hinter ihm zurücklässt. Das komische Wort, mit dem sie einmal seine Handgelenke bezeichnet hat, wird ihm gewiss nicht wieder einfallen.
    Ein altes Land, und auch seine Erinnerungen an das Land sind alt. Hier hat er als Kind, als Jugendlicher, als junger Mann gelebt. Schon als kleiner Junge ist er an der Hand seiner mit Einkaufstaschen bepackten Mutter über diese Brücke gegangen. Sie hat ihn stets ermahnt, sich nicht zu weit von der Mauer zu entfernen, an der er jetzt lehnt, deren Steine er jetzt an den Hüften spürt. Als er etwas älter war, hat er die Stadt auf eigene Faust erkundet, ist oft gedankenverloren über diese Brücke gegangen. Bestimmt haben es tausende unzufriedener Jugendlicher vor ihm genauso gemacht. Manchmal hat er sich gefragt, was wohl aus all diesen jungen Menschen geworden sein mochte: Dichter, Künstler, Admiräle? Er überlegt, wie er wohl reagieren würde, wenn der Junge, der Jugendliche – der er einmal gewesen ist – und dessen Mutter, das heißt seine eigene, plötzlich ein paar Meter entfernt an dem Geländer stehen würden: der Junge, der die Lippen so oft gegen die Steinbrüstung gepresst hatte, oder der ungeduldige Jugendliche, der er später gewesen war. Gewiss würde er sich schämen, von dem Jungen, dem Jugendlichen, der er selbst gewesen war, hier in diesem Zustand gesehen zu werden. Auch würde er sich gedrängt fühlen, sich seiner Mutter zu erklären. Ich bin eben auch nur ein ganz normaler Mensch. Seine Mutter hätte gewiss nie mehr von ihm erwartet, doch er weiß, dass er sie enttäuscht hat. Du bist eben auch nur ein ganz normaler Mensch: Das murmelt die Frau, die er liebt, an seiner Schulter, wenn es ihm wieder einmal schlecht geht, wenn er in ihrem Schlafzimmer in eine Ecke starrt oder neben ihr auf der Gartenbank sitzt. Kein schlechter Mensch, aber eben auch nur ein Mensch. Immer wieder hat sie versucht, ihn mit diesen Worten zu trösten, zu ermutigen – doch vergebens. Er öffnet die Augen: sieht plötzlich keine Geister mehr vor sich, sondern Vögel. Ja, das Wichtigste ist, ein

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