Geheimnis der Liebe: Roman (German Edition)
Reisetasche zu packen, als sie es hörte – das gedämpfte Klingeln eines Glöckchens, so leise und kurz, dass sie sich nicht sicher war, ob sie es sich nicht nur eingebildet hatte. Sie legte einen Walter-Scott-Roman auf einen schmalen Band mit Shakespeare-Sonetten und schnaubte. Gabriel war der Narr, wenn er meinte, sie ließe sich durch ein derart Mitleid erregendes Klingeln erweichen.
Sie war so damit beschäftigt, die Sachen auf ihrem Ankleidetischchen zusammenzupacken, dass ein paar Minuten vergingen, bis es ihr auffiel. Es herrschte Stille.
Grabesstille.
Spiegel und Haarbürste in der Hand blickte Samantha unsicher zur Decke. Eine unangenehme Vorahnung sandte ihr einen Schauer über den Rücken, aber sie tat das Gefühl mit einem Achselzucken ab. Gabriel war vermutlich nur wieder zum Schmollen in sein Bett zurückgekehrt.
Sie griff nach ihrer Flasche mit Zitronenmelisse und sah, dass ihr die Hand zitterte. Sie ließ sich auf den Stuhl vor ihrem Spiegel sinken und schaute ihr Spiegelbild an. Es war ein alter Spiegel, das Glas schon fleckig und wellig, und die Frau, die ihr daraus entgegensah, erschien ihr fast wie eine Fremde. Samantha nahm ihre hässliche Brille ab, erkannte aber dennoch den nachdenklichen Ausdruck in ihren Augen nicht wieder.
War sie nun mutig oder feige? Lehnte sie sich gegen Gabriel auf, weil er ein anmaßender Tyrann war, oder lief sie davon, weil er es gewagt hatte, sie anzufassen? Mit einer Hand berührte sie ihr Haar, fuhr über ihre Wange zu ihren Lippen, folgte der Berührung aus ihrem Traum. Irgendwie schien Gabriels Arroganz leichter zu ertragen als seine Zärtlichkeit. Und außerdem war sie viel weniger gefährlich für ihr angeknackstes Herz.
Sie setzte sich die Brille wieder auf und erhob sich, um die Flasche Zitronenmelisse in ihrer Reisetasche zu verstauen.
Sie benötigte nicht einmal eine halbe Stunde, um den Raum von jedem Anzeichen ihrer kurzen Anwesenheit zu befreien. Sie knöpfte sich gerade die kleinen Messing-knöpfe ihres Reise-Spencers zu, als jemand heftig an ihre Schlafzimmertür klopfte.
»Miss Wickersham! Miss Wickersham! Sind Sie da?«
Sich ihren Hut aufsetzend, zog Samantha die Tür auf. »Ausgezeichnet, Beckwith. Ich wollte gerade nach einem Lakaien läuten, der mir mein Gepäck nach unten trägt.«
Der wild um sich blickende Butler schenkte ihren gepackten Taschen nicht die geringste Aufmerksamkeit. »Sie müssen sofort mit mir kommen, Miss Wickersham! Der Herr braucht Sie!«
»Was ist denn jetzt schon wieder? Juckt es ihn vielleicht an einer schwer zu erreichenden Stelle? Oder sind seine Halstücher nicht ausreichend gestärkt?« Sie verknotete die Bänder ihres Hutes unter dem Kinn. »Was für eine schwachsinnige Ausrede auch immer er sich ausgedacht hat, ich kann Ihnen versichern, dass Ihr Herr mich nicht braucht. Das hat er übrigens nie.« Samantha war selbst überrascht, wie sehr es sie schmerzte, diese Worte von ihren eigenen Lippen zu hören.
Zu ihrem Entsetzen packte Beckwith, der unerschütterliche Verfechter von Anstand und Würde, sie einfach am Arm und versuchte, sie mit sich zu zerren. »Bitte, Miss«, flehte er. »Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll! Ich fürchte, ohne Sie stirbt er.«
Sie stemmte sich dagegen, von ihm einfach so gezogen zu werden, sodass Beckwith schließlich stehen bleiben musste. »Oh, bitte! Es besteht keinerlei Notwendigkeit für diese übertriebene Theatralik. Ich bin mir völlig sicher, dass der Earl auch ohne mich bestens zurechtkommen wird. Er wird kaum merken, dass ich nicht mehr …« Samantha schaute den Butler zum ersten Mal wirklich an, seit sie die Tür geöffnet hatte, und blinzelte.
Beckwiths Weste war zerknittert. Das spärliche Haar, das er gewöhnlich mit höchster Sorgfalt um seinen Kopf frisierte, stand in einem wilden Kranz ab, sodass die rosige Kopfhaut zu sehen war. Ihr Blick fiel auf seine dicklichen Finger auf ihrem Ärmel. Finger mit rostroten Striemen, die bereits einen Fleck auf der blassen Wolle ihres Ärmels hinterlassen hatten.
Ihr Herz klopfte plötzlich dumpf in ihrem Hals.
Samantha befreite ihren Arm aus seinem Griff und drängte sich an ihm vorbei. Sie raffte ihre Röcke, rannte den Flur hinab und die Treppen hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend.
Die Tür zu Gabriels Schlafzimmer stand einen Spalt offen.
Das Einzige, was Samantha sehen konnte, war Gabriel, der wie ein gefällter Riese mit dem Gesicht nach unten ausgestreckt auf dem Boden lag. Sie schlug die
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