Geheimnis der Liebe: Roman (German Edition)
das gar nicht nötig, wissen Sie. Unter diesen Umständen hätte ich niemals von ihr verlangt, ihre Verpflichtung mir gegenüber in Ehren zu halten.«
»Verpflichtung?«, wiederholte Samantha und bemühte sich, ihren Zorn zu zügeln. »Ich dachte, eine Verlobung sei ein Versprechen zwischen zwei Menschen, die einander lieben.«
Er lachte humorlos. »Dann sind Sie naiver, als ich es war. Da unsere Verlobung geheim war, blieben ihr immerhin die Bloßstellung und der Skandal erspart, die eine öffentliche Auflösung mit sich gebracht hätte.«
»Welch ein glücklicher Umstand für sie.«
Gabriels Augen trübten sich; es war fast, als könnten sie irgendwie die Vergangenheit klarer sehen als die Gegenwart. »Manchmal überlege ich, ob ich sie überhaupt wirklich gekannt habe. Vielleicht habe ich sie mir ja nur eingebildet. Irgendwie habe ich sie mir aus einem schön gedrechselten Satz und der Phantasie eines gestohlenen Kusses erschaffen – meinen Traum von einer vollkommenen Frau.«
»Ich nehme an, sie war schön?«, fragte Samantha, obwohl sie die Antwort schon kannte.
Gabriels Kinn schob sich vor, doch seine Stimme wurde sanft. »Wunderschön. Ihr Haar war von einem warmen Honigblond, ihre Augen wie das Meer unter dem Sommerhimmel und ihre Haut so weich …«
Mit einem Blick auf ihre eigenen rauen Hände räusperte sich Samantha. Sie war kaum in der Stimmung, dazusitzen und zuzuhören, wie er von Eigenschaften schwärmte, die ihr gänzlich abgingen. »Und was ist aus diesem Ausbund an weiblichen Tugenden geworden?«
»Ich nehme an, sie ist in den Schoß ihrer Familie nach Middlesex heimgekehrt, wo sie nun vermutlich den hiesigen Friedensrichter heiratet und auf einen bescheidenen Landsitz zieht, um einer Bande praktisch denkender Bälger mit Puddinggesicht das Leben zu schenken.«
Doch keines davon würde das Raphaelsgesicht eines Engels oder meergrüne Augen umgeben von einem Kranz vergoldeter Wimpern besitzen. Deswegen sah sich Samantha versucht, die Frau beinahe zu bemitleiden. Beinahe.
»Sie war eine Närrin.«
»Wie bitte?« Gabriel zog eine Augenbraue hoch, offensichtlich wegen ihrer sachlich klingenden Erklärung erstaunt.
»Das Mädchen war eine Närrin«, wiederholte Samantha mit noch mehr Nachdruck. »Und Sie sind ein noch größerer Narr, wenn Sie Ihre Zeit damit verschwenden, einem frivolen Geschöpf wie ihr nachzutrauern, dem vermutlich mehr an hübschen Ballkleidern und den Ausfahrten in den Park lag als an Ihnen.« Samantha erhob sich und ging den Raum zu ihm hinüber. Dann klatschte sie ihm mit dem Stapel Briefe auf den Handrücken. »Wenn Sie nicht wollen, dass jemand aus Versehen über Ihren sentimentalen Schatz stolpert, dann rate ich Ihnen, das hier unter Ihrem Kopfkissen aufzuheben.«
Gabriel rührte keinen Finger, um die Briefe zu nehmen. Er starrte einfach geradeaus, das Kinn vorgeschoben. Seine Nasenflügel bebten, aber sie konnte nicht sagen, ob es vor Ärger war oder um den üppigen Duft einzuatmen, der von dem parfümierten Briefpapier aufstieg. Sie fragte sich schon, ob sie wohl zu weit gegangen war, als er plötzlich die Briefe fortschob.
»Vielleicht haben Sie ja Recht, Miss Wickersham. Schließlich haben diese Briefe so gut wie keinen Nutzen für einen Blinden. Warum nehmen Sie sie nicht?« Samantha zuckte zurück. » Ich? Was um alles auf der Welt soll ich denn mit ihnen anfangen?«
Gabriel stand auf, sodass er sie überragte. »Warum sollte mich das kümmern? Werfen Sie sie in den Mülleimer oder verbrennen Sie sie im Kamin, wenn Sie wollen. Schaffen Sie sie mir einfach« – ein reuiges Lächeln spielte um seine Lippen, bevor er leiser fortfuhr – »aus den Augen.«
Samantha saß in ihrem verblassten Baumwollnachthemd auf der Kante ihres Bettes und starrte auf den Packen Briefe in ihrer Hand. Vor ihrem Fenster war der Nachthimmel schwarz wie Pech. Regen trommelte gegen die Fensterscheiben, als triebe ihn der Wind, all die zu strafen, die außerhalb seiner Reichweite waren. Trotz des gemütlichen Feuers, das im Kamin prasselte, fror Samantha bis auf die Knochen.
Ihre Finger spielten mit dem ausgefransten Ende des Seidenbandes, mit dem die Briefe zusammengehalten wurden. Gabriel hatte sie ihr anvertraut, um sie zu vernichten. Es wäre unrecht, wenn sie dieses Vertrauen brach.
Sie zog an den Bändern. Die Seide ging auf, und die Briefe fielen ihr in den Schoß. Ihre Brille absetzend, faltete sie den obersten vorsichtig auf, wobei ihr die Hände zitterten. Die
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