Geheimnis der Liebe: Roman (German Edition)
geschnitzt war, nahm sein argwöhnisches Stirnrunzeln zu. »Wozu ist ein Spazierstock gut, wenn ich nicht sehen kann, wohin ich spaziere?«
»Das ist genau der springende Punkt. Ich habe mir gedacht, wenn Sie jemals aufhören wollen, wie ein Tanzbär durch das Haus zu poltern, dann müssen Sie wissen, was sich vor Ihnen befindet, damit Sie nicht dagegenrennen.«
Mit nachdenklicher Miene hob Gabriel den Stock an und schwang ihn in einem weiten Bogen durch die Luft. Samantha duckte sich, als er dicht an ihrem Ohr vorbeizischte. »Nicht so! Das ist doch kein Fechtkampf.«
»Wenn es das wäre, dann hätte ich vielleicht eine Chance.«
»Nur, wenn Ihr Gegner ebenfalls blind ist.« Seufzend stellte sich Samantha hinter ihn. Sie fasste um ihn herum und schloss ihre Finger über seinen, sodass sie beide den geschnitzten Knauf des Stockes hielten. Sie senkte die Spitze zum Boden und führte seinen Arm dann in einem flachen Bogen. »So. Ganz langsam schwingen. Vor und zurück, hin und her.«
Von dem Singsang ihrer Stimme hypnotisiert, wiegten sich ihre Körper wie zu dem Rhythmus eines primitiven Tanzes. Samantha musste gegen das absurde Verlangen ankämpfen, ihre Wange an seinen Rücken zu schmiegen. Er roch so warm und köstlich männlich, wie ein Tal voll sonnenwarmer Tannen an einem trägen Nachmittag im Sommer.
»Äh … Miss Wickersham?«
»Hmmm?«, antwortete sie, immer noch in ihrem Traum gefangen.
Gabriels Stimme bebte vor kaum unterdrückter Erheiterung. »Wenn dies ein Spazierstock ist, sollte ich dann nicht auch spazieren gehen?«
»Oh! Natürlich!« Sich jäh von ihm lösend, strich sie sich eine lockige Strähne aus der brennend heißen Wange. »Ich meine, natürlich sollten Sie das. Wenn Sie direkt hier in dieser Ecke gehen, da habe ich ein paar Wege für Sie mit dem einen oder anderen Hindernis vorbereitet, damit Sie üben können.«
Ohne nachzudenken, nahm sie seinen Unterarm. Gabriel verspannte sich widerstrebend. Sie zog, aber er rührte sich nicht vom Fleck. Samantha fiel auf, dass sie ihn nie zuvor irgendwohin zu führen versucht hatte. Selbst wenn Beckwith ihn durchs Haus geleitete, wagte es der Butler nie, ihn tatsächlich zu berühren, es sei denn, um ihn kurz anzutippen und ihm so die Richtung zu weisen.
Sie rechnete damit, dass er ihre Hand abschütteln würde, barsch erklärte, dass er sich nicht wie ein hilfloses Kind an der Hand führen lassen wolle. Aber nach einem Augenblick spürte sie die Anspannung unter ihrem festen, wenngleich sanftem Griff aus ihm weichen. Obwohl sein Zögern immer noch spürbar war, folgte er ihr, als sie losging.
Mit Peters und Phillips Hilfe hatte sie ein paar griechische Liegen und zwei Ottomanen zu einer Gruppe zusammengerückt, sodass der Weg einem voll gestellten Flur glich. An verschiedenen Stellen standen kleine Tischchen und zwei halbhohe dorische Säulen mit Büsten von Athene, der Göttin der Weisheit, und Artemis, der Göttin der Jagd. Samantha hatte sogar ein paar Porzellanfiguren und andere zerbrechliche Gegenstände auf den Tischen platziert, da sie der Ansicht war, Gabriel müsse lernen, sich seinen Weg sowohl zwischen kleinen als auch größeren Hindernissen zu suchen.
Sie brachte ihn an den Anfang ihres Parcours. »Es ist im Grunde genommen ganz einfach. Alles, was Sie tun müssen, ist, den Spazierstock zu benutzen, um ohne Zwischenfall auf die andere Seite des Empfangssalons zu gelangen.«
Er runzelte die Stirn. »Falls ich scheitere, muss ich dann Schläge mit dem Stock fürchten?«
»Nur, wenn Sie Ihre Zunge nicht im Zaum halten.«
Obwohl Samantha sich zwang, einen Schritt zurückzutreten, konnte sie nicht verhindern, dass sie mit den Händen hilflose kleine Gesten um seine Schultern herum machte.
Statt mit dem Spazierstock einen Bogen zu beschreiben, stocherte Gabriel damit vor sich in der Luft herum. Als er gegen das erste Piedestal stieß, geriet die grinsende Büste darauf ins Wanken. Samantha stürzte vor und fing Artemis auf, bevor sie umfallen konnte.
Unter dem Gewicht schwankend, sagte sie: »Das war ein guter erster Versuch! Aber vielleicht gehen Sie das nächste Mal etwas subtiler vor. Stellen Sie es sich wie eines der Heckenlabyrinthe in den Vauxhall Gardens vor«, ermutigte sie ihn, wobei sie auf die berühmten Vergnügungsgärten in London anspielte. »Da würden Sie doch auch nicht mit dem Stock stochernd hindurchgehen, oder?«
»Gewöhnlich wartet auf einen Mann, der erfolgreich den Irrgarten durchquert hat, in der
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