Geheimnis der Liebe: Roman (German Edition)
meine Sachen morgen früh gepackt haben und fertig zur Abreise sein.«
Als sie zur Tür ging, erhob sich der Marquis und verstellte ihr den Weg, seine buschigen Augenbrauen zu einer strengen Linie zusammengezogen. »Einen Moment, mein Mädchen. Noch habe ich Sie nicht entlassen!«
Samantha senkte den Kopf, wartete darauf, dass er ihr den Tadel erteilte, den sie verdiente, weil sie so respektlos zu seiner Gattin gesprochen hatte.
»Und ich werde das auch nicht«, erklärte er. »Nach dem beeindruckenden Temperamentsausbruch eben zu urteilen, sind Sie vielleicht genau das, was mein sturköpfiger Sohn braucht.« Er nahm seinen Gehstock und ging an Samantha vorbei zur Tür, ließ sie stumm vor Schreck mitten im Zimmer stehen. »Kommt, Clarissa, Mädchen. Wir fahren nach Hause.«
Lady Thornwood holte scharf Luft. »Sicherlich erwartest du nicht von mir, dass ich fortgehe und Gabriel hier allein lasse.« Sie warf Samantha einen giftigen Blick zu. »Mit ihr .«
»Die Mädchen haben Recht. Er wird nicht zurückkehren, solange wir hier sind.« Die Lippen des Marquis verzogen sich zu einem trockenen Lächeln, wodurch er einen Moment lang Gabriel so ähnlich sah, dass Samanthas Herz einen Schlag aussetzte. »Ich kann ehrlich nicht sagen, dass ich es dem Jungen verübeln kann. Wer will schon eine Bande Geier um sich haben, wenn man um sein Leben kämpft? Kommt, Mädchen. Wenn wir uns sputen, liegen wir vielleicht noch vor Mitternacht in unseren Betten.«
Valerie und Eugenia beeilten sich, dem Wunsch ihres Vaters nachzukommen, rafften hastig Retiküls und Fächer, Schals und Hüte zusammen. Mit einem letzten erbosten Blick auf Samantha, der die junge Frau warnte, dass sie ihre Frechheit weder vergessen noch je verzeihen würde, fegte die Marquise mit wogendem Busen an ihr vorbei. Honoria verharrte auf der Türschwelle, gerade lange genug, um Samantha wehmütig zuzuwinken.
Als die Räder der Stadtkutsche über die Auffahrt ratterten, war Samantha – von der Gesellschaft des Rollstuhles einmal abgesehen – allein. Sie musterte das verhasste Gerät finster und wünschte sich nichts mehr, als das Polster mit bloßen Händen auf- und die Füllung aus Rosshaar herauszureißen.
Stattdessen zündete sie eine Argand-Lampe an und stellte sie auf den Tisch neben dem Fenster. Sie hatte dort mehrere Minuten gestanden, besorgt mit den Augen die Schatten draußen absuchend, ehe sie die Sinnlosigkeit ihres Handelns begriff. Schließlich würde die Lampe Gabriel kaum den Weg nach Hause weisen können.
Vielleicht hatte seine Mutter Recht. Vielleicht sollte sie jemanden losschicken, um nach ihm Ausschau zu halten. Aber es schien ihr nicht richtig, die Diener nach ihm suchen zu lassen, als sei er ein störrisches Kind, das sich schlecht behandelt fühlte und deswegen beleidigt von zu Hause fortgelaufen war.
Was, wenn er nicht gefunden werden wollte? Was, wenn er es schlichtweg herzlich leid war, von allen mit irgendwelchen Erwartungen bedrängt zu werden? Seine Familie hatte klar gemacht, dass sie nur ihren Gabriel zurückhaben wollte – den Mann, der mit unerschütterlicher Zuversicht durchs Leben geschritten war und die Herzen aller gewonnen hatte, denen er begegnete.
Trotz ihrer leidenschaftlichen Verteidigung – war sie tatsächlich besser als sie? Sie war hierher gekommen in dem Glauben, ihm helfen zu wollen. Aber nun begann sie, ihre Beweggründe zu hinterfragen, sich zu überlegen, ob sich hinter ihrem selbstlosen Wunsch am Ende womöglich ein sehr selbstsüchtiges Herz verbarg.
Samantha schaute auf die Flamme der Lampe. Ihr flackerndes Licht konnte Gabriel nicht nach Hause führen.
Aber sie konnte das.
Sie nahm die Lampe und schlüpfte durch die Terrassentür ins Freie.
Samantha ging in Richtung Wald, da Gabriel dorthin verschwunden war. Die Lampe, die ihr im Haus so hell vorgekommen war, hüllte sie in einen blassen Lichtschimmer, gerade genug, um die Schatten auf Abstand zu halten. Ihre Flamme wurde von der samtenen Schwärze des mondlosen Nachthimmels und den verzweigten Ästen über ihrem Kopf beinahe verschluckt, als sie sich zwischen den Bäumen fortbewegte. Sie konnte sich nicht vorstellen, Tag und Nacht in solcher Dunkelheit zu leben.
Als das Gewirr von Zweigen dichter wurde, bis der Himmel überhaupt nicht mehr zu sehen war, verlangsamten sich ihre Schritte. Der Anbruch der Nacht hatte Fairchild Park von einem kunstvoll angelegten Lustgarten in eine unbekannte Wildnis voller Gefahren und Schrecken verwandelt.
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