Geheimnis des italienische Grafen
den matten Glanz eines antiken schwarzen Gefäßes, in Sägemehl gebettet. Solche Gefäße hatte man einst bei vornehmen Banketten benutzt, um Wasser und Wein zu mischen. Irgendwie wirkten die roten Figuren in ihrer dionysischen Festfreude einsam und verloren.
„Wie schön“, murmelte Thalia. Ehrfürchtig berührte sie einen geschwungenen Henkel. „Und erstaunlich gut erhalten. Als wäre es erst vor wenigen Tagen hergestellt worden.“
„Italienische Erde hat es geschützt“, stieß Marco hervor. „Bis es ihr entrissen wurde.“
Besänftigend legte sie eine Hand auf seine Schulter und spürte verkrampfte Muskeln. „Was mögen die anderen Kisten wohl enthalten?“
„Schauen wir nach.“
Gemeinsam öffneten sie weitere Kisten, fanden Münzen, Marmorköpfe und -hände, die halb zerbrochene Grabstele eines kleinen Mädchens. Thalia kniete neben dem flachen Stein nieder. Erschüttert betrachtete sie das Relief des schönen, längst verstorbenen Kindes, die gesenkten Lider, die kunstvoll gestalteten Locken und Faltenwürfe der Kleidung.
„Tut mir so leid“, wisperte sie. Angesichts dieser Schönheit verstand sie zum ersten Mal voll und ganz, was Marco meinte, wenn er von der Bedeutung so edler Schätze sprach. Und was diese Nacht bedeutete, jenseits von aufregenden Abenteuern.
Das war es, was Celeste und Walter Chase ihren Töchtern stets zu erklären versucht hatten. Wie wichtig die Vergangenheit war, welch große, wertvolle Rolle sie für die Zukunft spielte.
Niemals würde Thalia diese Lektionen vergessen. Und sie wusste, dass man kriminelle Banden, die solche Kunstwerke aus reiner Profitgier stahlen, mit aller Macht bekämpfen musste.
Darin lag die eigentliche Mission einer Chase-Muse. Alle bisherigen Erfahrungen ihres Lebens hatten sie zu diesem Ort geführt, zu diesem Moment – zu Marco und der ehrenwerten Pflicht, die sie mit vereinten Kräften erfüllen würden.
Sie strich über das steinerne Gesicht des Kindes. Plötzlich fühlte sie sich mit ihm verwandt. Über Jahrtausende hinweg waren sie miteinander verbunden, und Thalia gelobte sich, sie würde der Seele dieses kleinen Mädchens zu ihrem Recht verhelfen.
„Komm zu mir, Thalia!“, unterbrach Marcos tiefe, drängende Stimme ihre Gedanken.
Mittlerweile hatte er eine Kiste am anderen Ende der Höhle geöffnet. Sie wandte sich von der Grabstele ab und eilte zu ihm. Zwischen Sägemehl und zerknülltem Zeitungspapier lag, was sie gesucht hatten.
Das Altarsilber aus dem Demeter-Tempel von Santa Lucia – Gefäße für Trankopfer, Schöpfkellen, ein reich verzierter Weihrauchbrenner mit einem Relief der Göttin, ein Opferteller, mit Weizengarben geschmückt. Trotz einer leichten Patina, die von der langen Reise herrührte, strahlten die Schätze ein überirdisches Licht aus.
Vorsichtig ergriff Thalia einen kleinen Becher und drehte ihn hin und her. Reliefs, die Ahornblätter und Bucheckern darstellten, umgaben ein Profil der Demeter. Am Boden des Gefäßes waren griechische Worte eingeritzt: „Dies gehört den Göttern.“
„Oh, Marco, wir haben es gefunden!“, flüsterte sie und wagte kaum zu sprechen, zu atmen, weil sie die Magie dieses Silbers zu entweihen fürchtete. Ja, er hatte recht – es war tatsächlich ein bedeutsames Symbol.
Ein Symbol von hinreißender Schönheit, vor langer Zeit dem Grauen eines blutigen Krieges entrissen …
Leidenschaftlich küsste er Thalia. Der Kuss schmeckte nach dem Triumph des gemeinsam errungenen Erfolges, nach dem Glück des endlich erreichten Sieges.
Doch die Freude war nur von kurzer Dauer. Plötzlich knirschten Kieselsteine vor dem Höhleneingang, Stahl klirrte, leise Stimmen erklangen.
Hastig warf Marco die Laterne um und löschte das Licht. Im Dunkel schloss er den Deckel über dem Silber und zog Thalia hinter gestapelte Kisten. Eng aneinandergeschmiegt, duckten sie sich.
Ein eisiger Schauer jagte Thalia über den Rücken. Reglos kauerte sie an Marcos Seite, konnte kaum fassen, wie schnell sich der Jubel in Panik verwandelt hatte. Mit zitternden Fingern presste sie den Silberbecher an ihr heftig pochendes Herz.
Marco schob sich vor sie, drückte sie an die Felsenwand und schirmte sie gegen die drohende Gefahr ab.
Immer lauter ertönten die Stimmen, die sich der Höhle näherten. Bald waren einzelne Wörter zu verstehen. Angespannt belauschte Thalia zwei Männern.
„Warum müssen wir das Zeug schon jetzt wegbringen?“, fragte der eine mit prägnantem nordenglischem Akzent, offenbar
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