Geheimnis des Verlangens
Alicia, die ihn seines Wissens nach noch nie belogen hatte. Und Alicia hatte ihm nichts erzählt, das er nicht selbst schon voller Verzweiflung geahnt hätte.
Und das war es, was ihn letzte Nacht wieder zur Flasche hatte greifen lassen, aber erst, nachdem er Alicia mühsam von seinem Körper losgemacht und ihr den Auftrag gegeben hatte, ihre Koffer zu packen. Dabei war er nicht besonders freundlich zu ihr gewesen, und jetzt, da er nüchtern war, bedauerte er das. In nüchternem Zustand begriff er jetzt auch, warum er Tanya erzählt hatte, dass Alicia bei ihm gewesen sei, als er ihren Schrei gehört hatte — obwohl Alicia in Wirklichkeit etwa eine halbe Stunde zuvor in ihr Zimmer zurückgekehrt war. Er wollte Tanya mit diesen Worten lediglich einen Schmerz zufügen, der dem seinen glich. Offensichtlich hatte es jedoch nicht funktioniert, denn sie war nur wütend über die Tatsache gewesen, dass er seinem Vergnügen nachging, während sie selbst in Gefahr war.
Der Anschuldigung, die Tanya gegen Alicia erhoben hatte, konnte er jedoch keinen Glauben schenken. Alicia mochte kleinlich und boshaft sein, aber eine Mörderin war sie nicht.
Noch nie im Leben war ihm etwas so schwergefallen wie seine nächste Frage an Tanya: »Wenn du sie nicht in der Nähe haben willst, bist du dann bereit, mich so zu nehmen wie ich bin, mit meinen Narben und allem anderen?«
Tanya wusste nicht, wie wichtig ihm ihre Antwort war oder wieviel Enttäuschung sie ihm ersparen konnte, wenn sie jetzt einfach mit ja antworten würde. Aber sie war zu aufgebracht, um mit einem Ja zu antworten.
»Schon wieder Eure Narben? Ihr und Alicia seid vom selben Schlag, wie? Ihr seid alle beide besessen von diesen verdammten Narben.«
Aber er hörte nur, dass sie seiner Frage ausgewichen war, und mehr brauchte er nicht als Antwort.
Abrupt setzte er sie wieder auf ihren Platz und wartete nur, bis sie sich wieder richtig hingesetzt hatte, um dann steif festzustellen: »Meine Berührung mag Euch nicht besonders gefallen, liebste Tanya, aber Ihr solltet Euch besser daran gewöhnen. Allerdings wissen wir beide, was passiert, wenn ich Euch küsse. Dann ist es Euch egal, wer das Küssen besorgt und wem die Hände gehören, die Euch berühren, nicht wahr?«
»Das kann ich wirklich und wahrhaftig nicht beurteilen«, schleuderte sie ihm entgegen, nur um plötzlich zu begreifen, dass diese spezielle Bemerkung zur Abwechslung einmal der Wahrheit entsprach.
Kapitel 43
» W ürde es Euch etwas ausmachen, mich zu küssen?«
Vasili richtete sich steif zu seiner vollen Größe auf, eine höchst eindrucksvolle Erscheinung in seiner Empörung. »Wie bitte?«
Tanya errötete, aber sie wollte noch nicht aufgeben. Sie waren in der Nähe von Cardinia, noch drei oder vier Tagesreisen entfernt, hatte man ihr gesagt. Aber seit sie Danzig verlassen hatten, ging Stefan ihr wieder konsequent aus dem Weg, nicht ganz so gründlich wie auf der Karpathia, aber doch vergleichbar.
Fast sofort hatte er sich aus ihrer Kutsche zurückgezogen, und Lazar oder Serge oder beide zu ihr geschickt, um ihr an seiner Stelle Gesellschaft zu leisten. Er dagegen ritt mit Vasili und den Wachen neben dem Troß her. Jetzt konnte sie schon von Glück sagen, wenn sie ihn einmal kurz durchs Fenster sehen konnte. Er kam auch nicht zu ihr, wenn sie in Dörfern oder auf großen Ländereien anhielten, um zu essen oder die Nacht dort zu verbringen. Einmal hatten sie auch im Freien kampiert. Sie wusste nicht, wo er geschlafen hatte.
Mit Danzig schienen sie auch die Zivilisation hinter sich gelassen zu haben. Die Landschaft wurde öde und trostlos und war ganz vom Winter gezeichnet. Häuser und Gehöfte wurden rar, Städte sogar noch rarer. Die gelegentlich auftauchenden Schlösser fesselten Tanyas Interesse am stärksten, aber niemals lange. Manchmal waren die Kutschen so vollkommen von Wolken oder Nebel eingehüllt, dass man schon alle Mühe hatte, auch nur ein paar Meter weit zu sehen. Ein sonniger Tag war ihr bisher nicht vergönnt gewesen. Es hatte oft geregnet, und gestern waren sogar ein paar Schneeflocken dabei gewesen, obwohl ein eisiger Wind sie schnell wieder verweht hatte. Wenn die verfahrene Situation mit Stefan sie nicht ohnehin schon trübsinnig gemacht hätte, wäre sie es angesichts dieses Wetters ganz gewiss geworden.
Sie fing auch eindeutig an, ihr kindisches Benehmen während ihres letzten Gesprächs mit Stefan zu bedauern. Ihr Temperament war mit ihr durchgegangen, wie gewöhnlich.
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