Geheimnis des Verlangens
elegante Häuser in gewissen Bezirken und dann auch viele nicht ganz so elegante in anderen Bezirken. Aber sie sahen alle nicht viel anders aus als die Häuser, die sie anderswo in Europa gesehen hatte. Der Handel blühte. Es gab große Kaufhäuser und kleine Geschäfte, offene Märkte, Verkaufsstände und sogar Lagerhäuser, direkt neben Parks, Cafes und Kirchen. Kutschen und Pferdeschlitten verstopften einige Straßen, in denen man zwar den Schnee zur Seite geschaufelt hatte, aber machtlos gegen die eisige Kruste gewesen war, die die Fahrbahn überzog. Andere Gassen waren leer, der Schnee dort von unverdorbenem Weiß und unberührt. Auf den großen Plätzen standen hohe Bronzestatuen, und winterkahle Bäume säumten viele Straßen.
Der Palast bildete schon ganz allein einen Platz. Wenn er auch kein turmhohes Schloss war, so war er doch unglaublich riesig. Drei Stockwerke hoch bedeckte er einen ganzen Block im Stadtkern. Die Mehrheit der für offizielle Zwecke bestimmten Zimmer lag in dem vorderen Gebäude des Palastes und viele andere Zimmer in den beiden Seitenblöcken. Ein Wohntrakt bildete den hinteren Teil des Schlosshofs , und in der Mitte dieser vier langgestreckten, miteinander verbundenen Gebäude lagen offene Gärten und Parks.
Tanya war begeistert von der Stadt, nachdem sie tagelang nichts anderes zu Gesicht bekommen hatte als kleine Dörfer und einmal den Besitz eines Adeligen. Aber der Palast selbst, seine Pracht und Fülle überwältigten sie vollkommen. Das Eingangstor war gigantisch; es erstreckte sich über die ganzen drei Stockwerke. Ein Beamter mit bewaffneten Wachen an seiner Seite war dort postiert, und noch viele andere Männer standen in der Halle, und sie hätten sie gewiss aufgehalten, wenn man Stefan nicht erkannt hätte. Sie gingen durch breite, marmorgeschmückte Korridore, vorbei an langen Reihen großer Porträts in soliden Goldrahmen. D iese Porträts wurden von den verschiedensten Dingen voneinander getrennt, bald waren es silberne Lampen auf Konsolen, die aus den Wänden ragten, bald Säulen, auf denen Büsten oder kleine Statuen prangten, oder Türen, vor denen zu beiden Seiten Lakaien auf ihrem Posten standen.
Das alles betäubte sie geradezu, während sie durch einen Korridor nach dem anderen geführt wurde. Sollte sie wirklich an einem Ort wie diesem leben? Und brachte man sie etwa gerade eben zu dem Zimmer, in dem sie in Zukunft leben sollte? Gott stehe ihr bei, das musste ja ganz am Ende des nächsten Gebäudetraktes liegen.
Aber sie waren nicht auf dem Weg zu Tanyas Zimmern, die im selben Flügel wie Stefans liegen würden. Sie hätte wissen sollen, dass er sofort zu seinem Vater gehen würde. Sie wünschte nur, er wäre nicht auf die Idee gekommen, sie mitzunehmen.
Stefan mochte zwar jetzt der König sein, aber das hatte sie nicht von Anfang an gewusst , und sie sah in ihm immer noch nur Stefan. Aber sein Vater war zwanzig Jahre lang König gewesen, so lange, wie sie auf der Welt war, also ein wirklicher König ihrer Meinung nach. Und sie war nicht darauf vorbereitet, ihm jetzt schon gegenüberzutreten, denn plötzlich hatte sie alles vergessen, was Lazar und die anderen ihr eingehämmert hatten, das ganze Protokoll und die korrekten Formen der Anrede — alles war mit einem Mal wie weggeblasen.
Daher war es kein Wunder, dass sie einen Hofknicks vor dem Premierminister machte, der im Vorraum zu den königlichen Gemächern am Schreibtisch saß und bei ihrem Eintritt überrascht aufgesehen hatte. Glücklicherweise war seine Überraschung jedoch so groß, dass er ihren Schnitzer nicht bemerkte.
»Stefan! Warum haben wir keine Nachricht bekommen, dass Ihr zurückgekehrt seid?«
Stefan umarmte den älteren Mann mit einem Lachen. »Das hätte ich auch getan, aber schließlich wartete Sandors Mann in Danzig und brach sofort auf, um hierher zurückzukehren. Daher sah ich keinen Sinn darin, noch jemanden loszuschicken , um Euch eine Nachricht zu überbringen, die Ihr ohnehin erhalten würdet.«
»Welcher Mann? Sandor hat niemanden geschickt. Wir haben angenommen, Ihr würdet das tun.«
»Dann ...« Stefan hielt inne, um einen Blick auf Tanya zu werfen. »Es sieht so aus, als sei dein Möchtegern-Attentäter doch gar nicht so dumm gewesen. Und das bedeutet auch, dass Alicia wissen müsste , wie er aussieht.«
»Attentäter?« rief Max aus.
Aber Tanya ließ sie nicht weiter zu Wort kommen, sondern fragte mit schmal gewordenen Augen: »Falls du deine Rothaarige besuchen
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