Geheimnis Um Mitternacht
Leidenschaft verloren hatte. Nichts war ihr mehr wichtig gewesen - nicht ihr guter Name oder was sie riskierte oder irgendetwas anderes. Sie war ihrem körperlichen Verlangen völlig ausgeliefert gewesen, blind vor Begehren, nur noch von Lust getrieben wie ein Tier.
Irene war immer stolz auf ihre Selbstbeherrschung gewesen, auf ihren Intellekt und ihren Verstand. Sie hatte sich gesagt, dass sie nicht so war wie ihr Vater, der stets nur von primitiven Trieben und den einfachsten Gefühlen geleitet wurde. Sie überlegte, bevor sie handelte. Sie wollte ein von Vernunft bestimmtes Leben, frei von allem Aufruhr der Gefühle.
Und doch hatte gerade eben nicht ihr Verstand das Sagen gehabt, sondern ihre niedersten Instinkte. Sie hatte an nichts gedacht, nichts gewollt, außer ihre körperlichen Gelüste zu befriedigen. Wie ihr Vater war sie von einem primitiven Hunger erfüllt gewesen, und sie hatte sich von ihm leiten lassen. Als Lord Radbourne nach ihr griff, hätte sie sich losmachen und ihn ohrfeigen sollen. Sie hätte ihm die brutale Zurückweisung erteilen sollen, die sein Verhalten verdient hatte.
Stattdessen war sie in seinen Armen dahingeschmolzen. Überwältigt von Verlangen hatte sie seinen Kuss erwidert, hatte ihre Arme um seinen Hals geschlungen und sich an ihn gedrückt. Sie hatte sich ihm hingegeben wie die dümmste alle Jungfern, hatte ihm die Kontrolle übergeben, sich von ihm unterwerfen lassen.
Sie war von Ärger und Abscheu erfüllt - über sich selbst genauso wie über den Mann, der sie in diesen Zustand versetzt hatte. Zornig funkelte sie den Earl an, froh über dieses Aufwallen der Wut, da es die Leidenschaft vertrieb, die sie zuvor alles hatte vergessen lassen.
Er erwiderte ihren Blick, und sie erkannte, dass auch ihn jedes Verlangen, das er gefühlt haben mochte, verlassen hatte. Sein Gesicht war ausdruckslos, seine Lippen eine schmale Linie.
„Es scheint, dass ich doch nicht so unpassend für Sie bin", sagte er leise. „Wenigstens in einer Hinsicht nicht."
Ihre Wut flammte auf, und ohne nachzudenken, schlug sie zu, ohrfeigte ihn hart. Die Kraft ihres Schlags riss seinen Kopf zur Seite, und als er sich ihr wieder zuwandte, war der weiße Abdruck ihrer Finger deutlich auf seiner gebräunten Haut zu sehen. Er biss die Zähne aufeinander, und für einen Moment blitzten seine Augen zornig, aber er sagte nichts.
„Ich werde niemanden heiraten", presste Irene heraus, den Tränen nahe. „Aber falls ich durch einen bizarren Umstand doch heiraten sollte, dann ganz sicher niemals Sie!"
Damit wirbelte sie herum und stolzierte erhobenen Hauptes zurück in den Ballsaal.
Francesca hatte einen günstigen Platz gefunden, von dem aus sie sowohl die Tanzfläche als auch die zwei Türen, die auf die Terrasse hinausführten, im Blick hatte. Sie stand ein wenig abseits von den meisten anderen Gästen und halb verdeckt von einer großen Topfpalme. Auf diese Weise war es ihr gelungen, in der letzten Viertelstunde einem Gespräch aus dem Weg zu gehen. Sie hatte sich hierher zurückgezogen, kurz nachdem Lord Radbourne mit Irene davonspaziert war.
Sie war überrascht gewesen, dass der Earl Irene hatte überreden können, sich ihm anzuschließen, und wenn sie sich nicht sehr täuschte, hatte Lord Radbourne Lady Irene auf die Terrasse geführt. Es schien, dass der Earl deutlich entschlossener und intelligenter als die meisten anderen Männer war, denn Irene erlaubte es einem Mann offenbar nur selten, sie zu irgendetwas zu überreden. Natürlich waren auch nur wenige Männer mutig genug, es überhaupt zu versuchen. Ihre scharfe Zunge und ihre Abneigung gegen das Flirten waren im Tora wohlbekannt. Dass ein Mann auch nur versuchte, sie zu umwerben, war schon sehr ungewöhnlich.
Francesca musste allerdings einräumen, dass der ernste Gesichtsausdruck des Earl of Radbourne ihn kaum wie einen Mann auf Freiersfüßen wirken ließ. Vielleicht war das der Grund, warum Irene mit ihm gegangen war.
Francesca fragte sich, ob es möglich sei, dass der Earl Erfolg haben würde, wo alle anderen Männer versagt hatten.
Als Radbourne vorgeschlagen hatte, Lady Irene auf ihre Liste möglicher Ehefrauen zu setzen, war ihre Neugier geweckt. Zunächst einmal hatte sie sich gefragt, woher er sie überhaupt kannte. Bis Gideon von Rochford gefunden worden und in den Schoß der Familie zurückgekehrt war, hatte er sich nicht in denselben Kreisen wie Irene bewegt.
Und nachdem er nach Hause gekommen war, schien er mehr oder weniger
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