Geheimnis Um Mitternacht
zurückgezogen mit der Familie auf dem Land gelebt zu haben. Wo und wann hatte er Irene also kennengelernt?
Aber noch stärker beschäftigte sie die Frage, warum er an ihr interessiert war. Irene war nicht unattraktiv.
Tatsächlich war sie in Francescas Augen eine der faszinierendsten Frauen in ganz London. Ihre großen Augen waren von einem hellen, fast goldenen Braun, die durch ihre langen dunklen Wimpern und die schön geschwungenen Brauen noch betont wurden. Ihre Züge waren klar, und ihr wild gelocktes dunkelblondes Haar gab ihr ein löwenartiges Aussehen, das leicht exotisch wirkte. Sie war vielleicht keine typische Schönheit, aber sie war durchaus anziehend - oder könnte es sein, wenn sie ein wenig mehr Interesse für ihr Aussehen aufbringen würde.
Normalerweise trug sie ihr Haar zurückgekämmt und zu einem strengen Knoten aufgesteckt, womit sie eines ihrer attraktivsten Merkmale praktisch versteckte. Ihre Kleidung war genauso streng. Wenn auch von gutem Schnitt und aus teurem Material, war sie sehr schlicht, geradezu langweilig. Sie erlaubte nichts, was ihr Aussehen - oder auch ihre Persönlichkeit - weicher oder zugänglicher machen würde.
„Verstecken Sie sich?", fragte eine trockene männliche Stimme direkt hinter Francesca, und sie wandte sich überrascht um.
Vor ihr stand Sir Lucien Talbot, mit dem üblichen ironischen Ausdruck auf seinem attraktiven Gesicht und eine Augenbraue amüsiert fragend hochgezogen.
„Oder spionieren wir?", fuhr er fort, stellte sich neben sie und ließ seinen Blick durch den Ballsaal schweifen.
„Darf ich mich zu Ihnen gesellen?"
„Natürlich." Francesca erwiderte sein Lächeln.
Sir Lucien war ihr ältester und liebster Freund und der einzige, der um den desolaten Stand ihrer Finanzen wusste.
Da er selbst häufig mit leeren Taschen dastand, hatte er schon lange erkannt, dass Francesca am Rande des finanziellen Ruins lebte. Kurz nach dem Tod ihres Mannes hatte er sogar einige Dinge für sie versetzt oder verkauft, da sie als Dame so etwas nicht selbst tun konnte. Francesca hatte ihm nie gesagt, dass sie die Projekte, die man ihr in den letzten Jahren antrug, nur wegen der finanziellen Zuwendungen angenommen hatte, die sie auf die eine oder andere Art erhielt. Trotzdem glaubte sie, Sir Lucien würde zumindest vermuten, dass sie nicht nur aus Spaß schwierige Mädchen durch den Heiratsmarkt der Londoner Saison begleitete.
„Ich warte darauf, dass Lady Irene Wyngate zurück in den Ballsaal kommt. Sie ist vor ein paar Minuten mit dem Earl of Radbourne auf die Terrasse gegangen."
„Irene Wyngate?", fragte Sir Lucien. Seine Augenbrauen schossen überrascht nach oben. „Sie haben sie für die Position der Countess im Auge?"
Francesca hatte Lucien gestern von Lady Odelias Heiratsplan, wie auch von ihrer eigenen Verwicklung in die Angelegenheit erzählt. Als einer der bekanntesten Gebieter über guten Geschmack und Stil war Sir Lucien bei mehr als einer Gelegenheit nützlich für Francesca gewesen, eines ihrer Mädchen richtig zu platzieren.
„Lord Radbourne hat speziell darum gebeten, sie kennenzulernen", erklärte Francesca. „Ich habe zugestimmt, sie heute einander vorzustellen. Kaum hatte ich meine Aufgabe erfüllt, hat er sie schon entführt."
„Auf die Terrasse?", fragte ihr Freund. Seine Stimme klang nun leiser, mit einem anzüglichen Unterton.
„Tatsächlich? Das hätte ich der eisernen Jungfrau niemals zugetraut."
„Bitte benutzen Sie nicht diesen albernen Namen. Ich kann nicht verstehen, warum Männer sich so schreckliche Spitznamen einfallen lassen müssen."
„Weil er zu ihr passt, und das wissen Sie auch ganz genau."
„Nun, ich möchte gar nicht wissen, welcher Name mir zugedacht ist", fuhr Francesca fort.
„Sie, liebste Freundin, nennt man nur ,die Venus', wie auch sonst", antwortete er mit einem Grinsen.
Francesca lachte glucksend. „Schmeichler."
Er schwieg für einen Moment und blickte mit ihr durch den Raum. Dann sagte er: „Warum, denken Sie, hat er gerade sie ausgesucht?"
„Ich weiß es nicht. Ich frage mich, wie er überhaupt wusste, wer sie ist. Ich vermute, er muss sie einmal irgendwo gesehen haben und sie ist ihm besonders aufgefallen. Auf ihre eigene Art ist sie durchaus attraktiv."
„Sie könnte atemberaubend sein, wenn sie sich nur ein wenig Mühe geben würde", stimmte Sir Lucien zu.
„Vielleicht hat er ein gutes Auge für Schönheit, um das zu erkennen." Er machte eine Pause und fuhr dann trocken fort:
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