Geheimnis von St. Andrews
zusammen das Kircheninnere. Bevor sie ihn ansprechen konnte, kam er ihr zuvor.
„Wollen wir einen Blick in die Krypta riskieren, Cherry?“
Sie nickte und musste sich eingestehen, dass sie erleichtert war. Obwohl sie sich nicht für feige hielt, fühlte sie sich mit Mark an ihrer Seite sofort besser. Er nahm eine Taschenlampe in die Hand.
„Gibt es da unten keine großen Stehleuchten?“, fragte sie.
„Doch, aber die werden verflixt schnell heiß. Und wenn Blackburn zurückkehrt und wir schnell verschwinden müssen, dann merkt er an den Lampen, dass jemand in der Krypta war.“
So vorausschauend hatte Cherry nicht gedacht. Sie war beeindruckt. Ob Mark schon öfter allein in der Krypta gewesen war? Gemeinsam stiegen sie die steilen Granitstufen hinab. Die Luft roch modrig. Obwohl draußen schönes warmes Sommerwetter herrschte, war es in der Krypta kalt, klamm und unangenehm. Cherry musste daran denken, dass die Reichen in England vor Erfindung des Kühlschranks oft einen Eiskeller besessen hatten. Das war ein unterirdischer Kühlraum, der im Winter mit dicken Eisblöcken gefüllt wurde und der Vorratshaltung diente. Dort blieb es auch während der warmen Jahreszeit unerbittlich kalt.
Oder war es Cherrys eigene Aufregung, die sie beim Abstieg in die Krypta so stark frieren ließ? Allmählich konnte sie verstehen, weshalb Blackburn stets miese Laune hatte. Gewiss war es kein Vergnügen, hier unten arbeiten zu müssen. Marks Taschenlampenstrahl warf einen Lichtschein in die schwarze Finsternis. Es waren nur wenige Stufen, die den Altarraum von der Krypta trennten. Und doch kam es Cherry so vor, als wären sie in eine andere Welt eingedrungen.
Es war unheimlich, aber gleichzeitig auch sehr anziehend. Es herrschte eine andere Atmosphäre als auf dem Friedhof, obwohl in der Krypta ebenfalls Tote beerdigt waren. Aber es handelte sich um Angehörige einer prominenten Adelsfamilie, und die Grabmäler wirkten geheimnisvoll und Furcht einflößend.
Ihre Schritte hallten und wurden als Echo von den Wänden zurückgeworfen. Die Krypta war offenbar viel größer, als Cherry gedacht hatte. Sie hatte sich eine Art Grabkammer unter dem Kirchenboden vorgestellt, eng und mit einer niedrigen Steindecke. Doch die Krypta war riesig, soweit Cherry das in der Dunkelheit beurteilen konnte. Im spärlichen Licht der Taschenlampe erblickte sie mehrere Nebenkammern des eigentlichen Andachtsortes, wo sich die Steinsärge befanden.
„Wer liegt hier eigentlich begraben?“, flüsterte sie. Cherry wusste selbst nicht, weshalb sie die Stimme senkte. Die Toten konnten sie ganz gewiss nicht hören. Aber es wäre ihr nicht eingefallen, in der Krypta mit normaler Lautstärke zu sprechen. Die Atmosphäre dieses jahrhundertealten Begräbnisraums zog sie in ihren Bann.
„Lord Dunnington und seine Familie. Er herrschte im 15. Jahrhundert über diese Gegend, bevor die ganze Sippe der Pest zum Opfer fiel. Das Geschlecht der Dunningtons ist ausgestorben, Dunnington Castle gehört inzwischen dem Staat.“
Cherry nickte, während sie die mächtigen Grabmäler betrachtete. Wieder einmal wunderte sie sich, wie es Menschen vergangener Jahrhunderte ohne moderne Maschinen geschafft hatten, derartig große Steinplatten zu bewegen. Als sie ehrfürchtig die Steinsärge betrachtete, fiel ihr auf, in welchem guten Zustand sie waren.
„Was hat ein Restaurator hier verloren?“
„Wie bitte?“, fragte Mark verständnislos.
„Ich hatte gerade nur laut nachgedacht. Ich frage mich, ob Blackburn überhaupt an diesen Sarkophagen gearbeitet hatte. Ich stehe zwar erst am Anfang meines Studiums. Aber für mich sehen diese Steinsärge nicht frisch restauriert aus. Wie viele stehen überhaupt hier unten?“
„Vier. Blackburn muss aber nicht unbedingt an den Särgen gearbeitet haben. Es gibt ja auch noch die Wände, die mit zahlreichen Fresken bemalt sind. Da ist schon eher etwas zu tun, schätze ich.“
Mark leuchtete an den Sarkophagen vorbei. Und wirklich entdeckten sie einige Meter weiter Blackburns Werkzeug, außerdem einige steinerne Ornamente, die er offenbar aus der Wand gelöst hatte.
„Und was ist unter der Plastikplane dort?“, wollte Cherry wissen.
Mark zuckte mit den Schultern. „Vielleicht noch weitere Verzierungen? Mal sehen.“
Er zog die Abdeckung zur Seite. Cherry biss sich auf die Lippe, um nicht laut aufzuschreien.
Unter der Plane waren Knochen und ein Totenschädel versteckt!
Mark richtete weiterhin den Lichtstrahl auf die
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