Geheimnisse der Lebenskraft Chi
an.
Die Rechnung kommt. Dr. Chow trinkt seinen Tee aus und lässt seine Kreditkarte auf das Tablett schnappen. Ich bedanke mich bei ihm für die Einladung. Er hält den Blick auf eine Stelle gleich über meinem Kopf gerichtet und weissagt, dass ich in spätestens drei Monaten eine Kreditkarte in Gold haben werde. Ich staune. Ich bin noch nicht lange berufstätig und habe keine goldene Kreditkarte beantragt. Als wir aufstehen, frage ich mit einer Geste nach dem Chi, das er mir zugesteckt hat. Er lächelt und sagt nichts dazu.
Um elf beginne ich an diesem Abend im Schlafzimmer mit meiner Chi-Gong-Praxis im Stehen, und mit allerletzter Mühe halte ich bis in die frühen Morgenstunden durch, dann fängt das ganze Zimmer an zu wogen, und endlich überfällt mich der Schlaf. Die Uhrzeit weiß ich nicht mehr, aber als ich die Bettdecke über mich ziehe, schäumt das Chi förmlich durch die zwölf Meridiane und die acht außerordentlichen oder Sondergefäße. Im Schlaf strömt das Chi weiter, es fließt sogar in meinen Träumen, und beim Aufwachen am Morgen ist es auch wieder da - elektrisch, mitreißend, begeisternd.
Am Vormittag mache ich einen Spaziergang durch ein Kiefernwäldchen im Park und bestaune das lebhafte Grün der Kiefernzweige, den durchdringenden Duft der Nadeln, den Geschmack der Luft, das Knistern unter den Füßen. So muss das Leben sein, denke ich. So sieht die Erfahrung der Welt in Wirklichkeit aus.
Zwei Monate später ist die goldene Kreditkarte meiner Bank in der Post.
KRANKE HEILER
Reikimeister, Shiatsutherapeuten, Chiropraktiker, Massagetherapeuten und was der Heilberufe mehr sind - sie schleppen ihren müden Körper in Dr. Chows Praxis und blicken dabei etwas betreten drein, als würde ihr Patientenstatus ein schlechtes Licht auf ihre Heilfähigkeiten werfen.
Der Reikimeister, der eines Tages die Praxis betritt, wirkt abgezehrt und erschöpft, aber die junge Schülerin, die ihn begleitet, ist voller Vitalität. Sie unterreden sich im Sprechzimmer mit Dr. Chow, erhalten ihre Behandlung und gehen wieder. Ich muss einfach bei Dr. Chow eindringen und ihn fragen, was mit den beiden los sei. Er sagt, die Schülerin habe dem Meister ständig Energie entzogen, aber beide hätten nichts davon gewusst. Er habe ihnen das aber nicht mitgeteilt, sagt er, um das Band zwischen Meister und Schülerin nicht zu gefährden. Und er fügt hinzu, dass dieser unwissentliche Energieraub des Schülers am Lehrer häufig vorkommt. Jetzt ist es an mir, etwas betreten dreinzuschauen. Wie oft mag ich wohl hier gesessen und ihm unwissentlich Energie entzogen haben? Wie sonst wäre zu erklären, dass ich in seiner Gegenwart immer jünger werde?
Ich frage, ob ein Heiler es verhindern könne, dass er Energie an seine Patienten abgibt. Dr. Chow verzieht das Gesicht. Als
Arzt, erwidert er, könne er mit Gewissheit sagen, dass beim Heilen immer ein wenig Energie verloren gehe. Manche Heiler, wende ich ein, behaupten, die Energie komme von der Erde, vom Universum, oder es sei die Energie der Liebe.Wo die Energie herkommt, sagt Dr. Chow, spielt keine Rolle; sie geht durch den Körper des Heilers und wird dabei immer etwas von seiner persönlichen Energie mitnehmen. Man müsse nur wissen, wie man seine Energien so ausreichend regeneriert, dass man von der Weitergabe an Kranke keine Nachteile für die eigene Gesundheit hat. Außerdem, fügt er einen Augenblick später hinzu, herrscht zwischen den Menschen ohnehin ein ständiges Geben und Nehmen von Energie. Als Beispiel führt er die Gruppenmeditation an, bei der Menschen mit viel Energie immer etwas an energieschwache Gefährten abgeben. Das ist einfach Physik, sagt er.
Ein chinesischer Heiler betritt unter Mühen die Praxis, sogar um Atem muss er ringen. Er bezeichnet sich als einen Fortgeschrittenen im Chi Gong, aber seine Energie reicht kaum für den Weg durchs Wartezimmer. Als er wieder gegangen ist, erkundige ich mich bei Dr. Chow, der mit verschränkten Armen im Sprechzimmer sitzt.
»Er Chi Gong falsch geübt«, sagt er. »Lernt von Meister in Hongkong.«
»Wie hat er denn geübt?«
»Atem nach unten gedrückt.«
»Kriegen Sie ihn wieder hin?«
»Dauert lange.Vielleicht kann man nicht helfen. Chi-Gong-Praxis muss natürlich sein, Atem ganz leicht, keine Anstrengung.«
Aus dem Tao Te King weiß ich, dass die Leute in der alten Zeit bis zu den Fersen hinunter atmeten. Ich zitiere Dr. Chow die entsprechende Passage und schließe die Frage an, weshalb das denn heute
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