Geheimnisse der Lebenskraft Chi
wandte mich heimwärts, auch wenn ich noch unternehmungslustig war und vor Energie strotzte.
Es gab auch Ausnahmen. Die Stimme gehörte vielleicht Dr. Chow, aber ich fasste sie lieber als mein eigenes Gewissen auf, dessen mönchische Diktate ich auch schon mal in den Wind schießen durfte, wenn die Nacht gar zu märchenhaft war. Dann konnte ich wieder einmal Kierkegaards Weltmann sein, in das Lachen der Menge einstimmen und mich noch eine Glitzerstunde lang treiben lassen, bis eben doch wieder das Gewissen schlug und die bessere Einsicht mich ins Bett geleitete.
DER ZAUBERSTAB
Eine Chi-Gong-Schülerin schenkt mir zum Geburtstag einen Zauberstab. Er ist aus Onyx, Jade und Marmor, etwa zehn Zentimeter lang und mit einer Spitze aus Quarz. Ich sitze im Wartezimmer und will ihn gerade auspacken, als meine Freundin mit dem Kopf in Richtung Sprechzimmer winkt. Ganz vertraulich raunt sie mir zu, Dr. Chow habe den Stab für mich aufgeladen. Mein Herz tut einen Sprung, so entzückt bin ich. Ein Traum der Kindheit, dort auch begraben, steht wieder auf und wird Realität. Ich bin Mr. Wizard. Ich habe einen Zauberstab.
Langsam öffne ich die Plastiktüte und taste mit der Hand hinein. Gleich fühlt sie sich wie elektrisiert an, als hätte ich in eine Masse viktorianischen Ektoplasmas gelangt. Meine Freundin beugt sich ganz aufgeregt vor, doch jetzt klopft es zweimal an die Sprechzimmerscheibe, und ich lege den Stab zurück. Auch von der behaglichen Couch muss ich jetzt lassen, um mich der Pulsnahme nach der Akupunkturbehandlung zu unterziehen.
Ich nehme auf dem Patientenstuhl Platz und bedanke mich bei Dr. Chow für das Aufladen des Zauberstabs, was ihm ein schüchternes Lächeln entlockt. Ich erkundige mich, wie lange die Ladung des Stabs hält. Etwa ein Jahr, sagt er. Ich frage, was
ich mit dem Stab machen kann, und er antwortet mit einem belustigten Lächeln, man könne kleine Verletzungen und Beschwerden damit behandeln. Er nimmt mir die Tüte aus der Hand, holt den Stab heraus und beschreibt damit schnelle kleine Kreise in der Luft. »So kann man Chi freisetzen.«
»Und weshalb benutzen Sie keinen Stab?«
Er legt ihn zurück in die Tüte, verschließt sie fest und sagt, das Chi halte auf diese Weise länger.
»Wieso benutzen Sie nie einen Stab?«, frage ich noch einmal.
Er sieht mich nachdenklich an und sagt: »Mein Körper ist Stab. Und mein Geist ist Stab.«
Mein Körper ist Stab. Und mein Geist ist Stab.
Kleine Kinder glauben, sie könnten die Dinge der Außenwelt mit ihren Gedanken lenken. Freud bezeichnete diese Phase als Primärprozess. Ein Psychologe wird einem sagen, dieses Denken sei narzisstisch, ein magisches Denken, wie man es noch in vielen Ritualen indigener Kulturen beobachten kann. Es ist auch eine Art mystischer Narzissmus, der gerade heute wieder unter hartgesottenen positiven Denkern und Bestellkunden des Universums verbreitet ist - stell es dir nur intensiv genug vor, und es wird eintreten.
Ich sehe das magische Denken nicht einfach als eine Entwicklungsphase der Psyche, sondern als Überrest einer Zeit in der Geschichte der Menschheit, in der außergewöhnliche Kräfte nicht wenigen Einzelnen vorbehalten waren. Freilich, wenn wir diese magische Erbschaft wieder nutzbar machen wollen, ist mehr erforderlich als nur ein Seminar in einem Redwood-Wald oder das Abbeten von Mantras und Affirmationen
über einen Monat. Magische Kräfte hängen davon ab, ob wir mit Energie umgehen können, und in diesem Sinne ist hier gar nichts Magisches im Spiel, sondern es geht um biophysische Energie, und die wird der sich abzeichnenden Wissenschaft des neuen Jahrtausends nicht fremd sein.
Mit meinem Zauberstab in der Tasche suche ich ein Café auf, in dem ich mit Ted Mann verabredet bin, einem Freund, der außerdem Dr. Chows Patient ist. Ich habe Ted von dem Stab erzählt, und er will ihn unbedingt testen.
Mit seinem schütteren weißen Bart und der ganzen koboldhaften Erscheinung ist Ted auch in der Menge immer mühelos zu finden. Er gibt sich gern als Witzbold, ist aber außerdem Sozialwissenschaftler und gilt als ein führender Kenner der Werke Wilhelm Reichs, dessen Faszination für Energien jeglicher Art er teilt. Als ich an seinen Tisch trete, sehe ich auf dem Stuhl neben ihm eine blaue Decke liegen. »Das ist eine Orgon-Decke«, erklärt Ted und hebt sie hoch. »Einer von Reichs Schülern hat sie erfunden, probier sie mal aus.« Ich nehme Platz und lege mir die Decke über die Knie. Ich schließe
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