Geheimnisse der Lebenskraft Chi
»Einfluss auf Wetter sehr schwierig.
Schwieriger als Schüler wie Drachen steigen lassen, schwieriger als Einfluss auf Tier oder Einfluss auf Pflanze, sogar Einfluss auf Ding.«
Die Konstrukteure des 1955er Austin-Healey statteten den Wagen mit einer Windschutzscheibe aus, die sich flachlegen lässt. Man fühlt sich dann wie ohne Helm auf einem Motorrad. An einer Ampel lege ich die Scheibe um, und wir fahren auf den sich neigenden Himmel zu, die Gesichter von frisch duftender Stille umströmt.
DIE GROSSE PRÜFUNG
Dr. Chow braucht Heilkräuter für einen Patienten, seltene Kräuter, die er nicht in der Praxis hat, also chauffiere ich ihn nach Chinatown. Ich werde ihn die nächsten beiden Wochen nicht sehen, weil er am Abend nach China fliegt. Am Kräuterladen angekommen, sage ich, dass ich auf ihn warten werde. Er möchte aber, dass ich weiterfahre, er habe noch viel zu erledigen in Chinatown. Bevor er aussteigt, fasst er mich am Handgelenk, und ein Chi-Stoß fliegt den Arm hinauf ins Herz.
»Bereit sein«, sagt er.
»Bereit für was?«
»Große Prüfung.«
Zwei Worte, die einschlagen und mich in aufgekratzte Hochstimmung versetzen. Würde Dr. Chow jetzt meinen Puls nehmen, hätte er sicher Anlass, sich über die Frequenz Sorgen zu machen. Da könnte er mich von Kopf bis Fuß mit Nadeln spicken, es würde nichts nützen.
Jetzt ist er draußen, und ich rufe ihm durch das Fenster nach: »Was soll ich denn zur Vorbereitung tun?« Selbst in meinen eigenen pochenden Ohren klingt die Frage überflüssig.
»Achtgeben!«, ruft er und ist weg.
Wenn man sich auf etwas, das ungewiss, aber von großer Tragweite ist, nicht vorbereiten kann, versetzt einen das geistig und körperlich in einen Zustand hoher Alarmbereitschaft. In letzter Zeit habe ich Episoden für die auf den französischsprachigen Originalcomics basierende Serie Tintin ( Tim und Struppi ) geschrieben, und der Ermittlungsdrang des jugendlichen Detektivs greift jetzt auf mich über. Für den Rest des Tages habe ich ein waches Auge auf alles Ungewöhnliche. Allerdings ist mein detektivischer Spürsinn nicht auf die Außenwelt gerichtet, sondern auf das was in mir abläuft. Stunde für Stunde verfolge ich die sich hetzenden Gedanken und nehme alle Körperempfindungen unter die Lupe, damit sich nur ja kein Hinweis auf die große Prüfung an meiner Aufmerksamkeit vorbeischleicht. Am Abend bin ich fix und fertig. Ich kann nicht mehr fühlen, ich kann nicht mehr denken, ich kann mir nichts mehr vorstellen. Ich nehme mir Chi-Gong-Übung im Bett vor, doch kaum krieche ich unter die Decke, bin ich auch schon eingeschlafen. Und dann kommt ein Traum.
Im Traum sitzt Dr. Chow im Flugzeug und sagt, er werde mir um halb zwei Chi zuwerfen, und ich solle mir dieses Gespräch einprägen. Beim Aufwachen fällt mir als Erstes ein bereits im Traum gegenwärtiger Gedanke ein: Dr. Chow hat mir nicht gesagt, ob die Chi-Sendung um halb zwei in der Nacht, am Tag oder nach chinesischer Zeit erfolgen wird.
Am nächsten Tag bin ich in Hochstimmung, immerhin habe ich im ersten Teil der Prüfung gut abgeschnitten, der ja darin besteht zu ermitteln, um was es überhaupt gehen wird. Der Traum nimmt mich völlig gefangen, und beim Mittagessen mit einer Freundin schaue ich immer wieder heimlich auf die Uhr - halb zwei,Viertel vor zwei, zwei. War mein Chi zu
schwach, um Dr. Chows Wurf aufzufangen? Kam sein Chi zu schwach, als dass ich es hätte bemerken können? Oder war es überhaupt die falsche Zeit?
Inzwischen ist es Samstag früh, zwei Tage nach dem Traum, und ich habe immer noch nichts gespürt.Verzweiflung kriecht an mir hoch, und mir fällt unser allererstes Gespräch über die große Prüfung ein.
Aber was, wenn ich nicht bestehe? Was dann?
Lehre zu Ende. Sie verlassen die Praxis.
Ein paar Stunden später sitze ich mit hängendem Kopf vor dem Fernseher, als ich plötzlich eine wahre Explosion von Chi am unteren Ende der Wirbelsäule spüre. Ich springe auf und sehe auf die Uhr. Der Einschlag ereignete sich um 13.23 Uhr. Sofort verteilt sich das Chi im ganzen Körper, und ich spüre es noch lange danach.
Am Tag der Rückkehr Dr. Chows aus China besuche ich ihn in der Praxis. Er sieht aus, als hätte er lange nicht geschlafen, aber seine dunklen Augen sind klar wie immer. Ich lehne am Türpfosten, mein Herz geht schnell, und erzähle ihm, dass ich von der großen Prüfung und den Zeitpunkt seines Chi-Wurfs geträumt habe, nur dass der Traum offen ließ, an welchem Tag der Wurf
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