Geheimnisse einer Sommernacht
die Ringellöckchen mit einem gelben Seidenband gehalten, so betrat Annabelle an Simons Arm den Ballsaal. Ein grandioser Saal mit umlaufenden weißen Marmorsäulen, von acht riesigen Kandelabern in strahlendes Licht getaucht, die Luft geschwängert vom Duft gewaltiger Rosenarrangements. In der Hand ein Glas eisgekühlten Champagner, mischte sich Annabelle sofort unter Freunde und Bekannte. Sie genoss die gelassene Eleganz dieser Leute, in deren Kreisen sie sich bislang immer bewegt und denen sie sich zugehörig gefühlt hatte, kultivierte, gebildete Menschen mit Kenntnissen über Musik, Kunst und Literatur. Diese Gentlemen würden im Traum nicht daran denken, in Gegenwart einer Dame von Politik oder Geschäften zu sprechen. Sie würden sich eher die Kugel geben, als Preise zu erwähnen oder gar in aller Öffentlichkeit über Soll und Haben eines anderen zu spekulieren.
Annabelle tanzte mehrmals mit Simon und anderen Männern, sie lachte, plauderte fröhlich und ließ geschickt die vielen Komplimente von sich abprallen, die man ihr machte. Irgendwann in der Nacht erspähte sie Simon, der an der anderen Seite des Saals stand und sich mit Freunden unterhielt, und verspürte das dringende Bedürfnis, zu ihm hinüberzugehen. Nachdem sie zwei anhängliche junge Männer abgewimmelt hatte, lief sie im Halbschatten hinter den Marmorsäulen an der Seite des Saals entlang. Zwischen den Säulen standen Sesselgruppen und Stühle, wohin sich die Gäste zu einem ruhigen Gespräch oder zum Ausruhen nach dem Tanz zurückziehen konnten. Annabelle passierte eine Gruppe Witwen und ging an einigen Mauerblümchen vorbei, die bei ihr ein mitleidiges Lächeln auslösten. Als sie dann aber hinter zwei Frauen vorbeigehen wollte, blieb sie im Schatten einer breiten Palme abrupt stehen.
„… ich weiß wirklich nicht, weshalb man sie einladen musste“, hörte sie die bissige Äußerung einer der beiden Frauen. Annabelle erkannte die Stimme. Sie gehörte Lady Wells-Troughton, einer ehemaligen Freundin, mit der sie noch vor ein paar Minuten ein paar förmliche Worte gewechselt hatte. „Haben Sie diese Selbstgefälligkeit bemerkt? Und dieser vulgäre Diamantring, haben Sie gesehen, wie sie damit protzt? Und dann dieser Ehemann!
Ohne jegliche Manieren und überhaupt keine Spur von Scham.“
„Ach, ihre Selbstgefälligkeit wird sie schon schnell verlieren“, hörte Annabelle die andere Stimme. „Ihr scheint noch nicht aufgefallen zu sein, dass sie lediglich Einladungen von solchen Leuten erhält, die ihrem Mann finanziell verpflichtet sind. Oder von Westcliffs Freunden.“
„Ja, ja, Westcliff ist schon ein bedeutender Verbündeter“, gab Lady Wells-Troughton zu. „Aber seine Gunst bringt sie auch nicht viel weiter. Sie sollten doch einfach so viel Anstand besitzen, sich nicht in Gesellschaftskreise zu drängen, in die sie nicht gehören. Sie hat einen Bürgerlichen geheiratet, und deshalb sollte sie sich auch in diesen Kreisen bewegen. Aber sicherlich kommt sie sich besser vor als diese Leute …“
Bleich und betroffen ging Annabelle weiter. Die beiden schwatzenden Frauen hatten sie nicht bemerkt.
Immer höre ich so unschöne Dinge über mich. Eine schlechte Angewohnheit, anderer Leute Gespräche zu belauschen. Das muss ich mir wirklich abgewöhnen, dachte sie, während sie sich an Bertha Hunts Bemerkungen über sie erinnerte.
Eigentlich überraschte es Annabelle nicht, dass man über sie und Simon klatschte. Sie war nur erschrocken über den gehässigen Ton der beiden Frauen. Weshalb diese Antipathie? War es Neid? Sicher, sie hatte einen jungen, attraktiven und reichen Ehemann, während Lady Wells-Troughton einen Adligen geheiratet hatte, der mindestens dreißig Jahre älter war als sie und der das Charisma einer Topfpflanze besaß. Zudem wollten Lady Wells-Troughton und ihresgleichen wohl mit aller Macht den einzigen Glanz bewahren, der ihnen blieb, ihre Mitgliedschaft in der Aristokratie.
Ein Mann im Gewerbe ist niemals so einflussreich wie ein Adliger, hatte Philippa gesagt. Annabelle schien es vielmehr, als habe der Adel Angst vor dem wachsenden Einfluss von Industriellen wie Simon. Nur wenige Aristokraten besaßen so viel Weitsicht wie Lord Westcliff, der erkannt hatte, dass man sich nicht nur mit alten Privilegien und mit Landbesitz an der Macht halten konnte. Annabelle trat zwischen zwei Marmorsäulen und ließ ihren Blick über die aristokratische Gesellschaft schweifen, stolze Leute, völlig überzeugt von ihrem
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