Geheimnisse einer Sommernacht
verarmte Frau eines Viscounts, die in einem schäbigen Haus lebte und nur zwei Dienstboten beschäftigte, fühlte sich Annabelle überlegen. Schließlich war ihr Mann ein Adliger, und Simon Hunt gehörte nur zur widerwärtigen und verpönten Klasse der Handeltreibenden.
Wütend über den kühlen Empfang bei der Viscountess wetterte Annabelle bei Lillian und Daisy über all die Kränkungen und Ablehnungen, die sie in letzter Zeit erhalten hatte. Amüsiert und mitfühlend hörten sich die beiden ihre leidenschaftliche Schimpfkanonade an. „Ihr hättet nur den Salon sehen sollen“, schnaubte Annabelle. Sie ging im Empfangszimmer der Schwestern, die auf dem Sofa saßen, auf und ab. „Staubig die Möbel, fadenscheinig die Bezüge auf den Sesseln, Weinflecken auf dem Teppich, und dann auf mich herabsehen und mich bemitleiden, weil ich unter meinem Stand geheiratet habe. Unter meinem Stand hat sie gesagt, wo doch jeder weiß, dass ihr Mann ein notorischer, idiotischer Säufer ist, der auch noch den fetzten Penny am Spieltisch verjubelt. Ihr Viscount ist es nicht einmal wert, Simon die Stiefel zu lecken. Am liebsten hätte ich ihr das gesagt, aber ich habe mich beherrscht.“
„Warum denn?“, fragte Lillian gelangweilt. „Ich hätte der bestimmt unter die Nase gerieben, was ich von ihrem dummen Snobismus halte.“
„Ach, mit solchen Leuten soll man erst gar nicht versuchen zu diskutieren“, schimpfte Annabelle. „Wenn Simon ein Dutzend Menschen vorm Ertrinken rettet, wird ihm niemals dieselbe Bewunderung zuteil wie dem fetten alten Aristokraten, der nur zuschaut und keinen Finger krümmt, um zu helfen.“
Daisy sah Annabelle mit leicht zusammengezogenen Brauen an. „Tut es dir etwa leid, dass du keinen Adligen geheiratet hast?“
„Nein“, sagte Annabelle sofort. „Aber …“ Beschämt senkte sie den Kopf, „Na ja, manchmal wünschte ich mir schon, dass Simon ein Aristokrat wäre.“
Lillian sah sie leicht besorgt an. „Wenn du noch einmal wählen könntest, würdest du dich dann für Lord Kendall und nicht für Mr. Hunt entscheiden?“
„Um Gottes willen, nein!“ Seufzend sank Annabelle auf einen Stuhl. Die Röcke ihres grünen, geblümten Seidenkleides bauschten sich um sie. „Ich bedauere meine Wahl nicht. Aber ich bedauere, dass ich nicht zum Wymark-Ball eingeladen bin oder zur Soiree im Gilbreath-House oder zu einer der anderen Geselligkeiten der Oberklasse. Stattdessen gehen Mr. Hunt und ich meist zu Veranstaltungen, die von ganz anderen Leuten gegeben werden.“
„Von was für Leuten denn?“, wollte Daisy wissen.
Als Annabelle zögerte, antwortete Lillian: „Emporkömmlinge meint Annabelle sicher.“ Ihre Stimme war voll Ironie. „Leute mit neuem Geld, mit Unterklasse-Werten und vulgären Manieren. Mit anderen Worten, Leute wie wir.“
„Nein“, widersprach Annabelle so heftig, dass die Geschwister lachen mussten.
„Doch“, sagte Lillian. „Du hast in unsere Welt geheiratet, Annabelle. Aber du gehörst in unsere Welt genauso wenig, wie wir in eine adelige Welt gehören werden, falls wir überhaupt einen blaublütigen Ehemann finden. Und im Grunde genommen interessieren mich Leute, die so schrecklich langweilig und von sich selbst überzeugt sind wie die Wymarks oder die Gilbreaths, auch überhaupt nicht.“
Annabelle blickte die Freundin nachdenklich an. „Ich habe nie darüber nachgedacht, ob sie langweilig sind“, murmelte sie. Plötzlich sah sie ihre Situation in einem ganz anderen Licht. „Ich wollte wohl immer ganz oben auf die Leiter, ohne mich zu fragen, ob mir die Aussicht von dort auch gefällt. Aber die Frage stellt sich nun sowieso nicht mehr. Ich muss mich an das neue Leben gewöhnen, das ganz anders ist, als ich es mir vorgestellt hatte.“ Sie stützte die Ellbogen auf die Knie und drückte ihr Kinn gegen die Hände. „Und das wird mir erst gelungen sein, wenn es mich nicht mehr verletzt, dass die käsegesichtige Frau eines Viscounts mich brüskiert.“
Ironischerweise erhielten die Hunts in der gleichen Woche eine Einladung zu einem Ball bei Lord Hardcastle.
Sicherlich fühlte er sich verpflichtet, Simon einzuladen, da der ihn bei der Sanierung seines schrumpfenden Familienvermögens und bei neuen Investitionen beriet. Obwohl sich Annabelle vorgenommen hatte, nicht mehr zu Bällen der High Society zu gehen, war sie dennoch schrecklich aufgeregt, denn es war ein pompöser Ball mit vielen Gästen, die sie kannte. In einer zitronengelben Ballrobe aus Satin,
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