Geheimnisse einer Sommernacht
traditionellen Denken und Benehmen und so völlig ignorant gegenüber der Tatsache, dass sich die Welt um sie herum zu verändern begann. Und doch fand Annabelle diese Gesellschaft noch immer angenehmer als das raue, oftmals hartherzige Gebaren von Simons Geschäftsfreunden. Aber sie bewunderte sie auch nicht mehr so bedingungslos, im Gegenteil …
Ein Gentleman mit zwei gefüllten Champagnergläsern in der Hand kam auf sie zu. Schütteres Haar, untersetzt, Nackenfalten, die ihm über den zu engen Hemdkragen quollen, Annabelle stöhnte innerlich, als sie ihn erkannte: Lord Wells-Troughton, der Mann der Frau, von der sie so verabscheut wurde. Die Art und Weise, wie sein gieriger Blick Annabelles Busen unter dem hellen Satin begutachtete, ließ allerdings nicht darauf schließen, als teile er den Wunsch seiner Frau, dass sich Annabelle vom Ball fernzuhalten habe.
Wells-Troughtons Neigung zu außerehelichen Beziehungen war allgemein bekannt. Vor einem Jahr hatte er Annabelle sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass er als Gegenleistung für ihre Gesellschaft ihre finanziellen Schwierigkeiten beheben könnte. Dass sie ihn hatte abblitzen lassen, schien sein Interesse nicht geschmälert zu haben. Und dass sie mittlerweile geheiratet hatte, auch nicht. Für Aristokraten wie Wells-Troughton war eine Ehe kein Hindernis für eine Affäre, im Gegenteil, die Ehe war ein Ansporn. „Geh nie mit einer Jungfrau ins Bett!“, war in adeligen Kreisen eine weit verbreitete Meinung. Liebesaffären waren ein Recht, das sich viele verheiratete Lords und Ladies freizügig gestatteten. Nichts war so attraktiv für einen Adligen wie die junge Frau eines anderen.
„Mrs. Hunt, so schön wie eine frische Rose sind Sie ja wieder heute Abend“, gurrte Wells-Troughton, als er Annabelle das Champagnerglas reichte.
„Danke, Mylord“, entgegnete sie mit einem kühlen Lächeln.
„Was ist denn der Grund Ihrer so offensichtlichen Zufriedenheit, meine Liebe?“
„Meine Heirat, Sir.“
„Ach ja“, lachte Wells-Troughton. „Ich erinnere mich gern an diese ersten Tage meiner Ehe. Genießen Sie sie nur, denn sie gehen allzu schnell vorbei.“
„Für manchen vielleicht. Für andere halten sie möglicherweise ein Leben lang.“
„Oh, meine Liebe, wie köstlich naiv!“ Süffisant lächelnd blickte er wieder auf ihren Busen. „Aber ich will Ihnen Ihre romantischen Illusionen nicht rauben. Über kurz oder lang verfliegen sie von selbst.“
„Bestimmt nicht“, widersprach Annabelle.
„Na?“, kicherte er, „ist Hunt denn ein perfekter Ehemann?“
„In jeder Beziehung!“
„Kommen Sie, ich bin doch Ihr Vertrauter. Suchen wir uns ein stilles Eckchen. Ich kenne da so einige.“
„Das glaube ich gern“, erwiderte Annabelle lachend. „Aber ich brauche keinen Vertrauten, Mylord.“
„Ich bestehe darauf, Sie nur für einen kurzen Moment zu entführen.“ Wells-Troughton legte seine fleischige Hand auf ihren Rücken. „Sie wollen doch wohl keinen Eklat, oder?“
Annabelle wusste, dass Ironie ihre einzige Waffe gegen seine Hartnäckigkeit sein konnte. Lächelnd trat sie einen Schritt beiseite und nippte mit gespielter Unbekümmertheit an ihrem Champagnerglas. „Mylord, ich wage es nicht, mit Ihnen irgendwohin zu gehen. Mein Mann ist nämlich leider sehr, sehr eifersüchtig.“
„Und mit gutem Recht, wie es scheint.“ Annabelle machte innerlich einen Freudensprung, als sie Simons ruhige Stimme hinter sich hörte. Innerlich bat sie ihn inständig, jetzt ja keine Szene zu machen, und sah ihn entsprechend an, denn der scharfe Unterton in seiner Stimme beunruhigte sie. Lord Wells-Troughton war zwar lästig, aber harmlos. Wenn Simon auf die Situation unangemessen reagierte, würde er sich und sie lächerlich machen.
„Hunt“, grinste der beleibte Lord ohne jegliches Schamgefühl. „Ein glücklicher Mann sind Sie, so ein köstliches Weib zu besitzen.“
„Ja, das bin ich!“ Simons Blick war gefährlich. „Und wenn Sie sich ihr jemals wieder nähern …“
„Liebling“, unterbrach Annabelle ihn mit einem betörenden Lächeln. „Ich liebe dein feuriges Temperament, aber lass es uns für nach dem Ball aufbewahren.“
Simon antwortete nicht und starrte Wells-Troughton so lange an, bis sein drohender Blick die Aufmerksamkeit der Umstehenden erregte. „Ich rate Ihnen, halten Sie sich von meiner Frau fern“, zischte er so heißblütig, dass sein Gegenüber erbleichte.
„Guten Abend, Mylord“, sagte Annabelle mit einem
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