Geheimnisse einer Sommernacht
zu beschleunigen. „Entschuldigen Sie mich bitte“, sagte sie verlegen. „Ich …, mein Verlobter …, ich glaube, er verlangt nach mir …“ Mit ihren Gedanken bereits ganz woanders erklärte sie bereits im Gehen, dass das Gästezimmer das fünfte auf der rechten Seite sei – und fort war sie. Im gleichen Moment tauchte ein Hausmädchen auf und zeigte Annabelle und ihrer Mutter den Weg.
Annabelle seufzte traurig. „Um Lord Kendali wird es einen gehässigen Wettstreit geben“, äußerte sie bekümmert.
„Hoffentlich ist er nicht sogar schon vergeben.“
„Er wird bestimmt nicht der einzige Junggeselle sein“, versuchte Philippa sie zu beruhigen. „Außerdem gibt es ja auch noch Lord Westcliff.“
„In der Richtung brauchst du dir gar keine Hoffnungen zu machen. Der Earl war wirklich nicht begeistert von mir, als wir uns das erste Mal trafen.“
„Da hat er sich bestimmt sehr geirrt“, empörte sich ihre Mutter.
Schmunzelnd drückte Annabelle die behandschuhte Hand ihrer Mutter. „Danke, Mama. Aber ich sollte mich vielleicht besser auf ein leichter erreichbares Ziel konzentrieren.“
Unaufhörlich trafen neue Gäste ein. Einige gingen sofort auf ihre Zimmer, um sich in Anbetracht des zu erwartenden Abendessens und des anschließenden Tanzabends mit einem kurzen Nachmittagsschlaf zu erfrischen.
Damen, die mehr dem Klatsch zugetan waren, versammelten sich im Salon und im Kartenzimmer. Die Herren spielten Billard oder rauchten in der Bibliothek. Philippa entschloss sich zu einem Nickerchen, nachdem die Zofe die Kleider ausgepackt und aufgehängt hatte. Es war ein kleines, aber hübsch eingerichtetes Schlafzimmer mit einer geblümten Tapete an den Wänden und hellblauen Seidengardinen vor den Fenstern.
Annabelle, die viel zu ungeduldig und aufgeregt war, um zu schlafen, fragte sich, ob Evie und die Bowman-Schwestern auch schon eingetroffen waren. Aber da sie vermutete, dass die anderen jungen Mädchen sich nach der Reise sicher etwas ausruhen wollten, beschloss Annabelle – um nicht stundenlang untätig und gelangweilt herumzusitzen –, die Umgebung des Herrenhauses zu erkunden. Es war ein warmer, sonniger Tag, und nach der langen Kutschfahrt sehnte sie sich nach Bewegung. Schnell machte sie sich etwas frisch, wechselte das Reisekleid gegen ein Tageskleid aus blauem Musselin mit kleinen Kellerfalten am Rock und verließ das Zimmer.
Außer einigen Bediensteten war sie niemandem begegnet, als sie durch einen Seiteneingang in den milden Sommernachr mittag hinauswanderte. Es herrschte eine ganz wundervolle Stimmung um Stony Cross Park – fast wie an einem magischen Ort in einem weit entfernten Land. Die Wälder ringsum waren so tief und dicht wie zu Urzeiten, und der zwölf Hektar große Park hinter dem Herrenhaus schien schon fast zu perfekt, um real zu sein. Es war ein Park für viele unterschiedliche Gemütslagen, es gab Haine und Lichtungen, Teiche und Springbrunnen, ruhige Bereiche wechselten sich mit farbenfrohen, heiteren ab. Die Anlage war äußerst gepflegt, die Kanten der Buchsbaumhecken messerscharf geschnitten und die Rasenflächen penibel kurz geschoren.
Ohne Hut und ohne Handschuhe, aber plötzlich voller Optimismus zog Annabelle los. Sie sog die frische Landluft ein, ging durch den terrassenförmig angelegten Teil des Gartens hinter dem Herrenhaus und folgte einem Kiesweg zwischen Beeten mit Mohnblumen und Geranien. Es duftete herrlich, als der Pfad bald darauf an einer Trockenmauer entlang führte, die über und über mit rosa und cremefarbenen Rosen berankt war.
Langsam wanderte sie durch einen Obstgarten mit alten Birnbäumen, die die Jahre zu märchenhaften Formen modelliert hatten. Weiter draußen leitete eine Reihe Silberbirken zu lockeren Baumgruppen über, die nahtlos mit den angrenzenden Wäldern zu verschmelzen schienen. Der Kiesweg endete in ein kleines Rund mit einem Steintisch in der Mitte. Als Annabelle näher trat, sah sie Stummel von zwei dicken Kerzen, die auf dem Stein niedergebrannt waren. Sie schmunzelte wehmütig. Das verschwiegene Plätzchen war wie geschaffen für ein romantisches Tête-à-tête.
Es passte zur verträumten Stimmung des Ortes, dass fünf weiße Enten gemächlich, eine hinter der anderen, über das Kiesrondell in Richtung des künstlich angelegten Teiches auf der anderen Seite des Parks watschelten. Die Enten schienen an die vielen Besucher in Stony Cross Park gewohnt zu sein, denn sie nahmen keinerlei Notiz von Annabelle, als sie in
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