Geheimnisse einer Sommernacht
vorstellen, dass Westcliff jemanden wie Hunt seinen Freund nannte. „Wieso sollte er mit Ihnen verkehren? Kommen Sie mir ja nicht mit der Behauptung, Sie hätten gleiche Interessen. Sie beide sind doch so verschieden wie Tag und Nacht.“
„Zufällig haben wir aber gleiche Interessen. Wir lieben beide die Jagd und teilen in weiten Bereichen die gleichen politischen Ansichten. Im Gegensatz zu vielen Adligen fühlt sich Westcliff nicht an die Restriktionen der Aristokratie gebunden.“
„Du meine Güte“, spottete Annabelle. „Sie scheinen ja den Adelsstand für eine Art Gefängnis zu halten.“
„In der Tat.“
„Dann kann ich es kaum erwarten, mich selbst einzukerkern und den Schlüssel wegzuwerfen.“
„Als Frau eines Aristokraten machten Sie sich vermutlich ganz gut“, erwiderte Hunt lachend.
Annabelle sah ihn missbilligend an, da seine Antwort durchaus nicht wie ein Kompliment klang. „Wenn Sie den Adel so verabscheuen, dann frage ich mich, weshalb Sie so viel Zeit mit den Leuten verbringen.“
Seine Augen funkelten böse. „Sie sind nützlich. Außerdem ist es nicht so, dass ich sie nicht mag – ich habe nur nicht den Wunsch, einer von ihnen zu seinen. Falls Sie es nämlich noch nicht bemerkt haben sollten, der Adel – oder zumindest sein bisheriger Lebensstil – ist im Aussterben.“
Ernsthaft schockiert von dieser Behauptung sah Annabelle ihn mit großen Augen an. „Was wollen Sie denn damit sagen?“
„Die meisten Aristokraten mit großem Landbesitz verlieren allmählich ihre Vermögen, zum einen durch Teilung und durch eine immer größer werdende Verwandtschaft, die unterhalten werden will …, und zum anderen müssen sie mit den Veränderungen im Wirtschaftssystem fertig werden. Die Herrschaft der großen Landbesitzer nähert sich bald ihrem Ende. Nur Leute wie Westcliff, die aufgeschlossen gegenüber Neuerungen sind, werden den Wandel überleben.“
„Dank Ihrer unschätzbaren Hilfe natürlich“, meinte Annabelle.
„So ist es“, sagte Hunt mit einer solchen Selbstgefälligkeit, dass Annabelle laut lachen musste.
„Haben Sie niemals daran gedacht, sich ein wenig bescheidener zu geben, Mr. Hunt? Nur aus Gründen der Höflichkeit.“
„Ich halte nichts von falscher Bescheidenheit.“ – „Die Menschen würden Sie vielleicht mehr lieben.“
„Sie auch?“
Annabelle grub ihre Fingernägel tiefer in das pastellfarbene Wachs und warf Hunt einen kurzen Blick zu, um das Maß an Spott in seinen Augen zu erforschen. Erschrocken stellte sie fest, dass er ernsthaft an ihrer Antwort interessiert zu sein schien. Zu ihrer Bestürzung bemerkte sie, wie ihr eine leichte Röte ins Gesicht stieg, während er sie forschend ansah und auf eine Antwort wartete. Sie fühlte sich durchaus nicht wohl in dieser Situation. Sie unterhielt sich ganz allein mit Simon Hunt, der neugierig neben ihr herumlungerte. Ihr Blick fiel auf seine große Hand, mit der er sich auf den Tisch stützte. Die langen Finger waren sauber und sonnengebräunt, die Nägel extrem kurz geschnitten.
„Lieben geht wohl etwas zu weit“, antwortete sie schließlich und ließ den Kerzenstummel los, den sie krampfhaft umklammert hatte. Doch je mehr sie versuchte, ihre Verlegenheit zu überwinden, desto höher kroch die Röte, bis sie schließlich den Haaransatz erreichte. „Vermutlich könnte ich Ihre Gesellschaft leichter ertragen, wenn Sie versuchten, sich wie ein Gentleman zu benehmen.“
„Zum Beispiel?“
„Fangen wir an mit der Art …, wie Sie Ihre Mitmenschen zu belehren belieben …“
„Ist Ehrlichkeit denn keine Tugend?“
„Schon …, aber einer guten Konversation kaum dienlich!“ Sie ignorierte sein Lachen und fuhr fort: „Es ist vulgär, so offen über Geld zu reden, insbesondere in der besseren Gesellschaft. Diese Leute tun so, als kümmerten sie sich nicht um Geld, wie man es verdient und investiert oder was Sie sonst noch so gerne diskutieren.“
„Ich habe nie verstanden, weshalb das Streben nach Reichtum so verschmäht wird.“
„Vielleicht weil ein solches Streben von so vielen Lastern begleitet wird … Habsucht, Egoismus, Doppelzüngigkeit und Betrug …“
„Das sind aber nicht meine Fehler“, unterbrach er sie.
Annabelle zog die Brauen hoch. „So?“
Hunt lächelte, schüttelte langsam den Kopf, die Sonne glitzerte auf seinem finsteren Gesicht. „Wenn ich habsüchtig und egoistisch wäre, dann würde ich die meisten Profite aus meinen Geschäften für mich behalten.
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