Geheimnisse einer Sommernacht
ein – sie konnte es nicht anders ausdrücken – Halbwilder.
Insgeheim ahnte sie, dass sich hinter der spöttischen Fassade ein Mann verbarg, der zu außergewöhnlich tiefer Leidenschaft, wenn nicht gar zur Brutalität fähig war. Hunt war kein Mann, der sich beherrschen ließ.
Sie versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn Hunts dunkles Gesicht, sein heißblütiger Mund ihr nahe kam, wenn er die Arme um sie legte wie schon einmal. Nur dass sie dieses Mal eine willige Partnerin sein würde. Ach, er ist doch nur ein Mann, überlegte sie nervös. Und ein Kuss war wirklich nur ein flüchtiger Augenblick.
Allerdings, für diesen kurzen Moment würde sie mit Hunt aufs Engste und intim verbunden sein. Und später, immer wenn sie sich begegneten, würde Simon Hunt siph insgeheim schadenfroh daran erinnern. Es würde ihr schwerfallen, das zu ertragen.
Sie rieb sich über die Stirn. Ihr Kopf schmerzte plötzlich so, als hätte sie einen Treffer mit der Schlagballkeule abbekommen. „Können wir nicht die ganze Angelegenheit vergessen und hoffen, dass er so viel guten Geschmack besitzt, nicht zu klatschen?“
„Oh, ja! Mr. Hunt ist ja auch bekannt für seinen guten Ge: schmack“, antwortete Lillian sarkastisch. „Gut, dann lass uns Daumen halten und abwarten. Falls deine Nerven dieser Anspannung gewachsen sind.“
Annabelle massierte sich bekümmert die Schläfen. „Gut“, gab sie schließlich nach. „Ich werde ihn heute Abend ansprechen. Ich werde …“ Sie zögerte eine ganze Weile. „Und wenn es notwendig ist, werde ich ihn auch küssen.
Ich denke, das ist wohl eine mehr als angemessene Bezahlung für die Kleider, die du mir geschenkt hast!“
Lillian grinste zufrieden. „Ganz gewiss wirst du zu einer vernünftigen Übereinkunft gelangen mit Mr. Hunt.“
Nachdem die Mädchen sich vor dem Herrenhaus getrennt hatten, ging Annabelle in ihr Zimmer. Sie hoffte, dass es ihr nach einem kurzen Nachmittagsschlaf bis zum Ball am Abend wieder besser ging. Ihre Mutter hatte sich mit ein paar anderen Damen zum Tee getroffen, und Annabelle war froh, dass sie sich in Ruhe umziehen und waschen konnte, ohne unangenehme Fragen beantworten zu müssen. Philippa war zwar eine liebevolle und recht nachsichtige Mutter, aber Annabelle wusste sehr wohl, sie würde wenig verständnisvoll auf die Eröffnung reagieren, dass ihre Tochter zusammen mit den Bowman-Schwestern in irgendwelche unziemlichen Spiele verwickelt gewesen war.
Nachdem sie endlich saubere Unterwäsche angezogen hatte, schlüpfte Annabelle zwischen die frisch gebügelten Bettlaken. Doch der quälende Schmerz an ihrem Fußgelenk ließ sie nicht einschlafen. Gereizt und verärgert rief sie nach der Zofe, die ihr ein kaltes Fußbad bringen sollte. Eine gute halbe Stunde badete Annabelle ihren geschwollenen Fuß und kam dabei zu der Schlussfolgerung, dass es einfach ein unglücklicher Tag war. Grantig und fluchend zog sie sich anschließend vorsichtig einen frischen Strumpf über den geschwollenen Fuß, und während sie sich langsam für den Abend ankleidete, rief sie noch einmal nach der Zofe, damit die ihr beim Zuschnüren des Korsetts und beim Zuknöpfen des gelben Seidenkleides behilflich war.
„Miss?“, fragte die Zofe vorsichtig, während sie besorgt Annabelles angespannte Miene betrachtete. „Sie sehen etwas unpässlich aus. Kann ich Ihnen irgendetwas holen? Die Haushälterin hat ein Mittel gegen Frauenkrankheiten …“
Annabelle lächelte matt. „Nein, das ist es nicht. Ich habe mir nur den Fuß verrenkt.“
„Da hilft vielleicht ein Weidenrindentee“, schlug das Mädchen vor, während es hinter Annabelle trat, um die Knöpfe ihres Ballkleides zu schließen. „Ich hole ihn sofort aus der Küche, dann können Sie den Tee langsam trinken, während ich Sie frisiere.“
„Ja, das wäre gut.“ Annabelle wartete, bis das Mädchen mit flinken Fingern die Knöpfe geschlossen hatte, dann sank sie erschöpft auf den Stuhl vor dem Ankleidetisch. Erschrocken starrte sie auf das gequälte Gesicht, das sie aus dem Queen-Anne-Spiegel ansah. „Ich weiß gar nicht, wann und wie ich mich verletzt habe. Normalerweise bin ich nicht so ungeschickt.“
Die Zofe zupfte den goldgelben Tüll an Annabelles Ärmeln zurecht. „Ich bin gleich zurück, Miss. Der Tee wird Ihnen bestimmt helfen.“
Als das Mädchen ging, kam Philippa. Lächelnd trat sie hinter Annabelle und betrachtete ihre Tochter in dem gelben Ballkleid. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel.
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