Geheimnisse einer Sommernacht
andere und versuchte mit Lillian Schritt zu halten, die nachdenklich, schweigend neben ihr ging. In einem Abstand von ein paar Metern folgten ihnen Daisy und Evie, die sich leise unterhielten.
„Was macht dir Kummer?“, fragte Annabelle.
„Der Earl und Mr. Hunt. Glaubst du, sie erzählen jemandem, dass sie uns heute Nachmittag gesehen haben?
Schrecklich wäre das für unseren Ruf.“
„Westcliff wohl nicht“, meinte Annabelle nach einem Moment des Nachdenkens. „Es klang glaubwürdig, dass er unter Gedächtnisschwund leiden will. Außerdem ist er kein Mann, der Klatsch verbreitet.“
„Und Mr. Hunt?“
Annabelle zog die Stirn in Falten. „Ich weiß es nicht. Er hat nicht versprochen, dass er den Mund halten will.
Wahrscheinlich wird er schweigen, weil er glaubt, dass er damit etwas gewinnen kann.“
„Dann musst du ihn bitten. Sobald du Mr. Hunt heute Abend auf dem Ball siehst, musst du ihm das Versprechen abnehmen, dass er niemandem von unserem Schlagballmatch erzählt.“
Mit Grauen dachte Annabelle an den Ball, der am Abend im Manor stattfinden sollte. Wie sollte sie Mr. Hunt nach diesem Nachmittag gegenübertreten? Andererseits hatte Lillian recht. Man konnte nicht darauf hoffen, dass er den Mund hielt. Wohl oder übel musste sie mit ihm reden. „Warum gerade ich?“, fragte sie, obwohl sie die Antwort schon kannte.
„Weil Hunt dich mag. Das weiß doch jeder. Dir wird er bestimmt keine Bitte abschlagen.“
„Bestimmt wird er auch eine Gegenleistung haben wollen“, murmelte Annabelle. Das Pochen in ihrem Fußgelenk wurde immer schlimmer. „Was soll ich tun, wenn er mir ein unzüchtiges Angebot macht?“
Lillian schwieg eine ganze Weile. „Du kannst ihm ja einen Knochen hinwerfen“, meinte sie schließlich zögernd.
„Was denn für einen Knochen?“, fragte Annabelle misstrauisch.
„Wenn es ihn zum Schweigen bringt, dann gestatte ihm einen Kuss.“
Scharf sog Annabelle die Luft ein. Sie war höchst erstaunt, wie lässig Lillian eine solche Bemerkung machen konnte. „Großer Gott, Lillian! Das kann ich nicht.“
„Warum denn nicht? Du hast doch andere Männer auch schon geküsst, oder nicht?“
„Ja, aber …“
„Ein Mund ist wie der andere. Pass auf, dass euch niemand beobachtet und bring es schnell hinter dich. Dann ist Mr. Hunt zufrieden, und unser Geheimnis bleibt gewahrt.“
Annabelle schüttelte verständnislos den Kopf und unterdrückte ein trockenes Lachen. Die Vorstellung, Hunt küssen zu müssen, bereitete ihr heftiges Herzklopfen. Ungewollt erinnerte sie sich an den heimlichen Kuss damals im Panoramatheater, an die hinreißenden Sekunden, an den Aufruhr ihrer Gefühle, wie aufgewühlt und sprachlos sie hinterher gewesen war.
„Du musst ihm nur klarmachen, dass er nicht mehr als einen Kuss von dir bekommen kann“, fuhr Lillian fort.
„Entschuldige, Lillian, aber deinen Plan kann ich wirklich nicht gutheißen, er stinkt wie alter Fisch. Ein Mund ist wie der andere! Für Simon Hunt bestimmt nicht! Mit einem einzigen, albernen Kuss wird der nie zufrieden sein, aber mehr könnte ich ihm niemals bieten.“
„Findest du Mr. Hunt wirklich so abstoßend?“, fragte Lillian. „Eigentlich ist er doch gar nicht so übel. Ich würde ihn sogar als ganz attraktiv bezeichnen.“
„Ich finde ihn so unausstehlich, dass ich niemals richtig Notiz von seinem Aussehen genommen habe. Aber ich muss zugeben, er ist …“ Verwirrt schwieg Annabelle. Je länger sie nachdachte, desto mehr beunruhigte sie die Frage.
Ganz objektiv gesehen – falls sie überhaupt sachlich über Simon Hunt urteilen konnte – war er ein gut aussehender Mann. Das Adjektiv ‚attraktiv‘ verwendete man allerdings nur bei Personen mit scharf geschnittenen Gesichtszügen und schlanken, eleganten Proportionen. Simon Hunt hingegen, mit seinen offenen, regelmäßigen Gesichtzügen, den frechen, dunklen Augen, der breiten Nase – wie sie nur ein Mann haben konnte – und dem großen Mund, mit dem stets respektlosen Lächeln, gab dem Wort ‚attraktiv‘ einen neuen Sinn. Selbst die ungewöhnlich große und muskulöse Statur machte ihn anziehend. Als ob die Natur bestimmt hätte, dass ein Mann wie er kein Hänfling sein durfte.
Vom ersten Moment ihrer Begegnung an hatte Annabelle stets ein beklemmendes Gefühl in Simon Hunts Gegenwart gehabt. Obwohl sie ihn nie anders als perfekt gekleidet gesehen hatte, und obwohl er immer äußerst höflich war, sie hatte doch stets das Gefühl, Hunt sei
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