Geheimnisse einer Sommernacht
Übermaß an Energie. Zudem waren beide kompromisslos ehrlich, nur dass Westcliff seine Meinung mit sehr viel höflicheren Manieren vertrat. Sie gehörten beide nicht zu der Sorte Männer, die sich stundenlang über Dichtung und sentimentale Lebensauffassungen auslassen mochten.
Sie zogen es vor, sich mit handfesteren Dingen abzugeben, und natürlich redeten sie stets sehr gern über gegenwärtige und zukünftige Geschäfte.
Da Simon oft zu Gast in Stony Cross und auch häufig im Londoner Stadthaus der Westcliffs, Marsden Terrace, zu Besuch war, akzeptierten ihn die Freunde des Earls mit der Zeit in ihren Kreisen. Für Simon war es auch eine angenehme Überraschung, dass er nicht der einzige Nichtadlige im engeren Freundeskreis von Westcliff war. Der Earl schien eindeutig die Gesellschaft von Menschen vorzuziehen, deren Weltbild außerhalb der Mauern von Adelssitzen geprägt worden war. Ja, Westcliff behauptete sogar hin und wieder, dass er – wenn so etwas möglich wäre – seinen Titel gern abgeben würde, da er nicht die Idee einer erblichen Aristokratie vertrete. Simon hegte keinen Zweifel an Westcliffs Behauptungen, aber er wusste auch, dass Westcliff durch und durch Adliger war, dass aristokratische Privilegien mit all ihrer Macht und der damit verbundenen Verantwortung zu ihm gehörten. Als Besitzer der ältesten und bekanntesten Grafschaft in England war Marcus, Lord Westcliff, dazu geboren, den Anforderungen von Pflicht und Tradition gerecht zu werden. Sein Leben war nach einem strengen Tagesablauf wohlorganisiert, und Simon kannte niemanden, der so viel Disziplin besaß wie Westcliff.
„Verdammt!“, fluchte Westcliff nach einiger Zeit. „Gelegentlich habe ich mit ihrem Vater geschäftlich zu tun. Wie soll ich Thomas Bowman gegenübertreten, ohne daran zu denken, dass ich seine Tochter in Unterwäsche gesehen habe?“
„Töchter“, korrigierte Simon ihn. „Sie waren beide da.“
„Ich habe nur die größere gesehen.“
„Lillian?“
„Ja, die.“ Westcliffs Mienenspiel drückte Wut aus. „Oh Gott! Kein Wunder, dass keine von denen verheiratet ist.
Sie benehmen sich ja wie Wilde, selbst nach amerikanischen Sitten. Und wie diese Frau mit mir gesprochen hat.
Als wenn ich mich entschuldigen müsste, ihr wildes Gelage unterbrochen …“
„Westcliff, du klingst ja wie ein Tugendbold“, unterbrach ihn Simon, den die Vehemenz des Earls amüsierte. „Ein paar unschuldige Mädchen, die auf einer Wiese herumspringen, bedeuten doch wohl kaum das Ende unserer zivilisierten Welt. Wenn es ein paar Dorfschöne gewesen wären, hättest du dir nichts dabei gedacht. Im Gegenteil, wahrscheinlich hättest du sogar noch mitgemacht. Ich habe gesehen, wie du auf Festen und Bällen mit deinen Geliebten …“
„Sie sind aber keine Dorfschönen! Sie sind junge Damen oder sollten es jedenfalls sein. Zum Teufel, warum benimmt sich dieser Haufen von Mauerblümchen eigentlich so?“
Simon musste grinsen. „Meiner Meinung nach haben sie sich verbündet. In der letzten Saison haben sie nämlich noch zusammengesessen, ohne viel miteinander zu sprechen. Erst seit Kurzem scheinen sie Freundschaft geschlossen zu haben.“
„Und zu welchem Zweck?“, fragte der Earl und machte aus seinem tiefen Misstrauen keinen Hehl.
„Vielleicht wollen sie nur fröhlich sein“, schlug Simon vor, den es interessierte, wieso Westcliff Anstoß am Benehmen der Mädchen nahm. Insbesondere Lillian Bowman schien ihn sehr zu beschäftigen. Sehr ungewöhnlich für den Earl, der stets allen Frauen mit einer gewissen Gleichgültigkeit begegnete. Soweit Simon wusste, hatte Westcliff, trotz der unzähligen Frauen, die ihn im Bett und auch außerhalb verfolgten, niemals die Haltung verloren. Bis heute!
„Dann sollten sie zusammen handarbeiten oder sich mit irgendetwas amüsieren, womit sich anständige Frauen sonst die Zeit vertreiben“, schimpfte der Earl. „Auf jeden Fall sollten sie sich eine Freizeitbeschäftigung suchen, bei der sie nicht nackt durch die Gegend laufen müssen.“
„Nackt waren sie nicht“, stellte Simon klar. „Sehr zu meinem Bedauern!“
„Diese Anzüglichkeit nötigt mich zu einer Bemerkung. Du weißt, dass ich normalerweise keinen Rat gebe, wenn ich nicht darum gebeten werde …“
„Westcliff“, unterbrach Simon den Freund mit schallendem Gelächter. „Ich bezweifle, ob es bisher auch nur einen Tag in deinem Leben gegeben hat, an dem du nicht irgendjemandem zu irgendetwas einen Rat erteilt
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