Geheimnisse einer Sommernacht
es muss heute Abend passieren, bevor …“
„Bevor?“, fragte Evie bestürzt. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, als sie besorgt den Kopf neigte. Wie mit Goldstaub überzogen glänzte ihre sommersprossige, samtene Haut. „Bevor was?“, wiederholte sie.
Als Annabelle schwieg, schaute Evie auf ihr Glas, fuhr mit der Fingerkuppe über den Rand und angelte ein Fruchtstückchen heraus, das an der Innenseite hängen geblieben war. Die Bowman-Schwestern berieten sich angeregt, ob der Birnengarten wirklich der beste Ort war, Kendall in den Hinterhalt zu locken. Und Annabelle glaubte schon, Evie würde keine weiteren Fragen stellen, als die Freundin ihr zuflüsterte: „Hast du schon gehört, Annabelle, dass Mr. Hunt seit gestern Abend wieder auf Stony Cross ist?“
„Woher weißt du das?“
„Von meiner Tante. Jemand hat es ihr erzählt.“
„Nein, das wusste ich nicht“, antwortete Annabelle, und als sie Evies gedankenvollen Blick sah, fuhr es ihr durch den Kopf: Verloren ist, wer den Fehler macht, Evangeline Jenner zu unterschätzen. Evie betrachtete nachdenklich die Zuckerlösung auf dem Boden ihres Glases. „Wieso ist er eigentlich nie auf dein Angebot zurückgekommen, ihn zu küssen?“, sagte sie mehr überlegend als fragend. „Nachdem er in der V…Vergangenheit so viel Interesse an dir gezeigt hat …?“
Ihre Blicke trafen sich, und Annabelle spürte, wie sie rot wurde. Sie schüttelte den Kopf und flehte Evie mit den Augen an, sie nicht weiter zu fragen.
Die Freundin schien zu verstehen. „Annabelle“, begann sie langsam und ernst, „würde es dir etwas ausmachen, wenn ich heute Abend nicht dabei bin, wenn die anderen dich mit Kendall überraschen? Ich g…glaube, es wird genug Zeugen geben. Lillian wird bestimmt eine Menge ahnungsloser Zuschauer auftreiben. Auf mich kommt es gar nicht mehr an.“
„Moralische Bedenken, Evie?“, fragte Annabelle verlegen lächelnd.
„Oh nein, so scheinheilig bin ich nicht. Ich bin durchaus bereit, gemeinsame Schuld zu tragen … und w…wenn nötig, komme ich heute Abend auch in den Garten. Ich bin Mitglied der Gruppe. Nur …“ Sie schwieg einen Moment und sprach dann noch leiser weiter: „Ich g…glaube, du willst Kendall gar nicht. Weder als Mann noch als Liebhaber. Mit der Zeit habe ich dich etwas besser kennengelernt, und deshalb bin ich nicht der Ansicht, dass du mit ihm glücklich wirst.“
„Doch“, widersprach Annabelle so laut, dass die Bowman-Schwestern aufmerksam wurden. Neugierig blickten sie herüber. „Niemand kommt näher an mein Ideal von einem Ehemann als Lord Kendall.“
„Er passt perfekt zu dir“, pflichtetet Lillian ihr bei. „Säst du etwa Zweifel, Evie? Dafür ist es jetzt zu spät. Wir sind fast am Ziel, da wollen wir doch wohl unseren ausgezeichneten Plan nicht aufgeben.“
Evie sank tiefer in ihren Stuhl und schüttelte den Kopf. „Nein, nein, ich habe nicht v…versucht…“, murmelte sie und warf Annabelle einen bedauernden Blick zu.
„Natürlich hat sie das nicht“, nahm Annabelle sie in Schutz, versuchte ein wenig kaltschnäuzig zu lächelnd und fuhr fort: „Und nun lass uns noch einmal den Plan ganz genau durchgehen, Lillian.“
Amüsiert und selbstgefällig stimmte Lord Kendall zu, als Annabelle Peyton ihn am frühen Abend zu einem Spaziergang zu zweit durch den Garten drängte. Es war die Stunde der Abenddämmerung. Kein Windhauch regte sich, die Luft war schwül, eine dumpfe Stimmung lag über Gut und Park. Die meisten Gäste hatten sich zurückgezogen, kleideten sich an für das Abendessen oder saßen träge und sich Luft zufächelnd, im Kartenzimmer oder im Salon. Garten und Park waren fast menschenleer. Jeder Mann wusste, was ein Mädchen von ihm wollte, wenn es unter solchen Voraussetzungen einen Spaziergang ohne Begleitung vorschlug. Der Aussicht auf ein paar heimliche Küsse schien Kendall offensichtlich nicht abgeneigt zu sein, denn er ließ sich bereitwillig von Annabelle den in Terrassen angelegten Garten hinunter und hinter eine Mauer mit Kletterrosen locken.
„Das ist ganz und gar nicht schicklich, Miss Peyton. Vielleicht sollten wir doch besser eine Anstandsdame mitnehmen“, meinte er schmunzelnd.
Annabelle schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. „Ach, kommen Sie. Nur einen Moment. Das bemerkt doch keiner.“
Während er ihr willig folgte, wuchsen Annabelles Schuldgefühle. Ihr kam es vor, als führe sie ein Lamm zur Schlachtbank. Kendall war ein liebenswerter Mann, er verdiente es
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