Geheimnisse einer Sommernacht
durch.
Als ihr Herz nicht mehr ganz so wild pochte und sie sich schließlich etwas beruhigt hatte, blickte sie wieder auf das Schachbrett und versuchte, Hunts letzten Zug zu verstehen. Wie hatte er ihre Königin genommen? Annabelle überlegte und begriff … Er hatte sie absichtlich dazu verführt, seinen Bauern zu nehmen und damit ihre Dame in eine Position gebracht, in der er sie mit seinem Turm schlagen konnte. Ohne Dame war ihr König bedroht und …
Er hatte ihr Schach geboten.
Mit einem einfachen Bauern hatte er sie ausgetrickst. Sie war in Gefahr. Ungläubig lachend drehte sie sich um.
Grübelnd ging sie im Zimmer auf und ab, dachte über verschiedene Verteidigungsstrategien nach und versuchte, sich für den Zug zu entscheiden, den er am wenigsten von ihr erwartete. Schließlich ging sie lächelnd zum Schachbrett zurück. Sie war gespannt, wie Hunt wohl auf ihren Gegenangriff reagieren würde. Doch als ihre Hand schon über dem Brett schwebte, verflog ihre freudige Erregung plötzlich. Ihr Gesicht wurde zu Stein. Was tat sie da? Dieses Spiel fortzuführen, auf diese Weise auch nur eine leichte Verbindung zu ihm zu halten, war sinnlos.
Nein, sogar gefährlich. Zwischen Glück und Unglück gab es keine Wahl.
Annabelles Hand zitterte leicht, als sie eine Schachfigur nach der anderen ordentlich in die Schachtel legte. „Ich gebe auf“, sagte sie mit brüchiger Stimme. „Ja, ich gebe auf!“, wiederholte sie und kämpfte gegen den Kloß in ihrem Hals. Sie war nicht so dumm, sich etwas …, jemanden … zu wünschen, der bestimmt nicht gut für sie war.
Sie schloss die Schachtel, trat zurück und blickte noch eine Weile auf den. Schachtisch. Traurig und müde fühlte sie sich plötzlich, aber fest entschlossen.
Heute Abend! Heute Abend musste ihr halbherziges Werben um Lord Kendall zum Erfolg geführt werden. Der Aufenthalt in Stony Cross näherte sich allmählich seinem Ende und jetzt, da Simon Hunt zurückgekehrt war, durfte sie nicht riskieren, durch eine weitere Verwicklung mit ihm sich alles kaputt zu machen. Sie straffte die Schultern und begab sich auf den Weg zu Lillian, um ihr zu sagen, dass sie bereit war. Gemeinsam würden sie den Plan verwirklichen. Heute Abend wollte sie sich mit Lord Kendall verloben.
18. KAPITEL
Die vier Mauerblümchen saßen bei einem Glas kühler Limonade auf der Terrasse, allem Anschein nach ganz unschuldig, aber in Wirklichkeit bereiteten sie sich bis ins Detail auf den kommenden Abend vor.
Lillians Augen glänzten vor Begeisterung. Generalstabsmäßig wie einen Feldzug plante sie die Aktion. „Das Kunststück ist, den richtigen Zeitpunkt abzupassen“, erklärte sie. „Ich schlage vor, unter der Devise ‚Ein wenig Bewegung schon vor dem Abendessen ist gesund‘ sollten wir unsere Mutter, Evies Tante Florence und alle, die in unserer Nähe sind, zu einem Spaziergang durch den Garten auffordern. Mit etwas Glück erreichen wir dann rechtzeitig die Lichtung auf der anderen Seite des Birnengartens und sehen dich in flagrante delicto mit Lord Kendall.“
„Flagrante delicto? Was ist denn das? Kriminell?“, fragte Daisy.
„Ganz genau weiß ich es auch nicht“, gab Lillian zu. „Ich hab’s in einem Roman gelesen, danach soll das die richtige Taktik sein, ein Mädchen zu kompromittieren.“
Annabelle reagierte im Gegensatz zu den anderen mit einem halbherzigen Lachen. So lustig wie die Bowmann-Schwestern fand sie die Angelegenheit gar nicht mehr. Vor zwei Wochen noch, ja, da wäre sie außer sich vor Freude gewesen. Aber jetzt? Irgendwie erschien ihr das alles nicht mehr richtig. Die Chance, einem Adligen endlich einen Antrag zu entlocken, ließ sie völlig kalt. Sie empfand nichts, weder Aufregung noch Freude oder Bedauern. Es kam ihr vor wie eine Pflicht, die sie erfüllen musste. Aber sie ließ sich ihre Sorgen nicht anmerken, und die Bowman-Schwestern schmiedeten weiter ihre Pläne wie zwei erfahrene Verschwörer.
Nur Evie, die wesentlich aufmerksamer und sensibler als die beiden anderen Mauerblümchen war, schien die wahren Gedanken hinter Annabelles verschlossener Miene lesen zu können. „B…Bist du sicher, Annabelle, dass du das auch w…willst?“, fragte sie leise, die blauen Augen besorgt auf ihr Gegenüber gerichtet. „Niemand zwingt dich. Wir finden schon noch einen anderen Verehrer für dich, wenn du Kendall nicht willst.“
„Es bleibt keine Zeit, einen anderen zu finden“, flüsterte Annabelle zurück. „Nein, Kendall soll es sein, und
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