Geheimnisse einer Sommernacht
sie den Bauern, wunderte sich kurz, wie schwer er war, und setzte ihn vorsichtig neben das Brett.
Ein solches Glücksgefühl wie diesen kurzen Moment am Schachbrett sollte Annabelle im Verlauf der Woche nicht wieder erleben. So hatte sie sich noch nie im Leben gefühlt, weder glücklich noch traurig. Sie machte sich nicht einmal Sorgen um die Zukunft. Sie fühlte gar nichts, ihr war alles gleichgültig und sie befürchtete schon, dass sie sich nie wieder über etwas würde freuen können. Manchmal hatte sie das Gefühl, neben sich zu stehen und eine Puppe zu beobachten, die wie ferngesteuert durch den Tag wanderte.
Kendall kümmerte sich immer öfter um Annabelle. Sie tanzten zusammen auf dem Ball, er saß während des Konzerts neben ihr und spazierte mit ihr – Philippa in diskretem Abstand hinter ihnen – durch den Garten. Kendall war höflich und unaufdringlich charmant. Er war so friedfertig, dass Annabelle glaubte, wenn die Mauerblümchen ihm endlich eine Falle Stellten, würde er es nicht einmal allzu sehr bedauern, ein Mädchen heiraten zu müssen, das er versehentlich kompromittiert hatte. Er würde sich fügen und als kluger Mann einen Weg finden, die Situation zu akzeptieren.
Philippa konnte Hodgeham von Annabelle fernhalten. Irgendwie war es ihr sogar gelungen, Hodgeham davon abzubringen, dass er Lord Kendall ihr Geheimnis ausplauderte. Philippa verriet keine Details über ihr Gespräch mit Hodgeham, aber Annabelle ahnte ihre ständige Sorge und versuchte wieder vorsichtig, die Frage zu erörtern, ob sie Stony Cross nicht besser verlassen sollten. Doch davon wollte Philippa nichts hören. „Ich werde mit Hodgeham schon fertig“, versprach sie. „Kümmere du dich nur weiter um Lord Kendall. Mittlerweile ist allen klar, dass Kendall begeistert von dir ist.“
Doch Annabelle konnte den Alkoven im Musikzimmer nicht aus ihrem Gedächtnis löschen. Nachts träumte sie davon, wälzte sich in ihrem Bett und wachte schließlich erregt und schweißgebadet auf. Die Erinnerung an Hunt quälte sie ständig, sein Geruch, seine Wärme, seine heißen Küsse und sein kraftvoller Körper unter dem eleganten schwarzen Abendanzug.
Trotz des Versprechens, das sich die Mauerblümchen gegeben hatten, einander alle Liebesabenteuer zu erzählen, mochte Annabelle sich keiner der Freundinnen anvertrauen. Was geschehen war, ging nur Hunt und sie etwas an.
Sie wollte nicht, dass es von den wissbegierigen Freundinnen kommentiert wurde, die genau so wenig Ahnung von Männern hatten wie sie selbst. Außerdem wusste Annabelle, dass sie ihre Gefühle sowieso nicht verstehen würden.
Eine so seelenzehrende Intimität, die zu einer so sinnverwirrenden Erregung führte, konnte man sowieso mit Worten nicht beschreiben.
Wie um Gottes willen konnte sie nur solche Gefühle für einen Mann aufbringen, den sie immer verachtet hatte?
Zwei Jahre lang hatte sie stets Angst gehabt, ihm bei gesellschaftlichen Anlässen zu begegnen. Zwei Jahre lang hatte sie ihn für den unangenehmsten Partner gehalten, den sie sich nur vorstellen konnte. Und nun …?
Um endlich auf andere Gedanken zu kommen, ging sie nach ein paar Tagen in den Privatsalon der Marsdens, um sich mit Lesestoff zu versorgen. Sie zog einen dicken Band heraus, auf dem in goldenen Lettern stand: Königliche Gartenbaugesellschaft, Aufsätze und Berichte unserer Ehrenwerten Mitglieder aus dem Jahr 1843. Das Buch war schwer wie ein Amboss. Während sie das Werk zu dem kleinen Tisch am Fenster trug, fragte sich Annabelle, wieso jemand so viel über Pflanzen schreiben konnte. Gerade wollte sie es sich auf dem Sofa bequem machen, als das Schachbrett in der Ecke ihre Aufmerksamkeit erregte. War es Einbildung oder …
Neugierig ging Annabelle hinüber und starrte auf die Figuren, an deren Aufstellung sich die ganze vergangene Woche nichts geändert hatte. Ja …, da war doch etwas verändert. Mit ihrer Königin hatte sie Simons Bauern genommen. Aber nun stand ihre Königin neben dem Brett.
Er ist zurück, dachte sie. Ein siedend-heißes Gefühl durchströmte sie. Es war Simon Hunt, nur er konnte das Schachbrett berührt haben. Das wusste sie. Er war hier, zurück auf Stony Cross. Ihre Wangen glühten, ihr wurde abwechselnd kalt und heiß. Wieso diese völlig unangemessene Reaktion? Seine Rückkehr bedeutete nichts, gar nichts! Sie wollte ihn nicht! Sie konnte ihn nicht haben und sie musste ihm auf jeden Fall aus dem Weg gehen.
Annabelle schloss die Augen und atmete tief
Weitere Kostenlose Bücher