Geheimnisvoll Vertrauter Fremder - Historical Bd 274
er in seiner Kabine aufbewahrte. Doch keineswegs würde er seine Schwäche vor den Augen dieser Frau bloßlegen, die ohnehin schon zu viel Macht über seine Gefühle besaß.
„Kathryn …“ – er sagte die Worte, ohne sich bewusst zu sein, dass er sprach. „Kathy … süße kleine Kathy …“
Einen Augenblick lang hatte er ein Tosen in den Ohren. Seine Gedanken waren in Aufruhr, und auf einmal verschwanden die Sterne. Schwärze umgab ihn, abgrundtiefe Schwärze, und dann durchfuhr ihn ein schrecklicher Schmerz. Er sah etwas – das Gesicht eines Mädchens, und Blut … Laut stöhnte er auf.
„Habt Ihr etwas gesagt, Sir?“
Lorenzo riss sich zusammen, als der Kapitän auf ihn zutrat. Er runzelte die Stirn, denn er konnte nicht einschätzen, was eben in ihm vorgegangen war. Es schien, als hätte sich in seinem Inneren ein Vorhang gehoben und eine Begebenheit aus seiner Vergangenheit enthüllt. So etwas war noch nie zuvor geschehen. Die Zeit vor seiner Versklavung war bislang völlig ausgelöscht gewesen, aber nun hatte er kurz den Eindruck gehabt, als erinnerte er sich.
„Nein, ich habe mich lediglich geräuspert“, antwortete er und vertrieb die Bilder, bevor sie ihm die Kraft raubten. Er musste sie aus seinen Gedanken verbannen! Er konnte sich nicht den Luxus gönnen, Gefühle für eine Frau wie sie zu empfinden. „Fortuna war uns heute hold, Michael. Irgendwoher muss Rachid erfahren haben, dass wir ohne Begleitung fuhren. Es war ein Fehler. Wenn man mit Wölfen zu tun hat, sollte man im Rudel jagen, genau wie sie.“
„Du hattest keine Zeit zu verlieren, wenn du sie retten wolltest“, sagte Michael. Er schwieg eine Weile, bis er fortfuhr: „Ich befürchte, sie versteht die Gesetze der Meere nicht, Lorenzo. Es erscheint ihr grausam, Männer im Wasser zurückzulassen, wobei ihr nicht klar ist, wozu diese Männer fähig sind. Wir sind nicht unterwegs, um sie zu retten.“
„Frauen und Krieg passen eben nicht zusammen“, erwiderte Lorenzo. Er hatte seine übliche Gemütsruhe wiedergefunden. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, doch es fand im eisigen Blau seiner Augen keine Entsprechung. „Du darfst nicht zulassen, dass sie dir Schuldgefühle einredet, mein Freund. Die Männer, die heute durch unsere Hände starben, dienten einem grausamen Herrn. Wir sollten kein Mitleid für sie empfinden. Sie hätten uns getötet und sich mit Kathryn vergnügt.“
„Manche von ihnen sind aber nicht freiwillig bei Rachid.“
Lorenzo bemerkte die Zweifel im Gesicht des anderen Mannes. „Wir haben drei von ihnen lebendig aus dem Wasser gezogen“, beschwichtigte er. „Die anderen hatten mithin keine Chance, da sie an die Ruder gekettet waren – sie sind mit der Galeere untergegangen. Wir haben sie nicht zu Sklaven gemacht, Michael. Wenn wir die Meere von Männern wie Rachid befreien sollen, müssen dabei auch Unschuldige sterben. Auch wir werden vielleicht für unsere Überzeugungen sterben. Wir können unseren selbst gewählten Weg nur weitergehen, wenn wir das akzeptieren.“
„Natürlich.“ Michael lächelte kaum merklich. Er hätte nicht aufgrund des Vorwurfs, den er in den Augen einer Frau gelesen hatte, schwach werden dürfen. „Sie ist sehr schön, Lorenzo, und ich bin ein Narr. Vergib mir.“
Lorenzo lächelte. „Wenn wir es zulassen, machen Frauen uns alle zu Narren, mein Freund.“
Kathryn schaute auf das tiefblaue Wasser der Lagune und empfand Erleichterung, weil sie wusste, dass sie nun bald wieder bei Tante Mary und Onkel Charles sein würde. Sie waren durch ihre Entführung gezwungen gewesen, ihre Reise nach Zypern zu verschieben. Sicherlich warteten sie ungeduldig darauf, endlich in See stechen zu können. Doch sie konnten nicht so ungeduldig sein wie sie, denn nach ihrer Abreise würde sie Lorenzo Santorini endlich nie wieder zu Gesicht bekommen.
Ein Teil von ihr wusste, dass es sowohl undankbar als auch falsch von ihr war, ihn zu verurteilen, aber es gelang ihr nicht, ihre Wut auf ihn zu unterdrücken. Er war so überheblich, so selbstsicher. Es mussten zahlreiche Männer gestorben sein, denn die Galeere war schneller untergegangen, als sie es verfolgen konnte. Und doch hatte er von denjenigen, die sich an etwas klammern konnten, nur einige wenige gerettet. Wie hätte er sich gefühlt, wenn er wie eine jener armen Kreaturen an ein Ruder gekettet und zum Tode verurteilt gewesen wäre, sofern ihm nicht irgendjemand half? Er konnte keine Vorstellung von dem Leid und dem Schmerz
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