Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
wohlhabendsten Käuferinnen. Allerdings war diese Tatsache so wohlbekannt, dass bereits um sieben Uhr morgens eine ganze Schar zerlumpter Kinder vor der Passage darauf wartete, dass die Tore geöffnet wurden und sie ihren Stammplatz vor einem der Geschäfte einnehmen konnten. Es waren hauptsächlich Mädchen, und alle offenbar bettelarm, denn nur ein einziges von ihnen trug Schuhe, doch alle hatten sich bemüht, sich irgendwie zurechtzumachen. Die wenigen Jungen trugen zerbeulte Zylinder und die Mädchen irgendeine Kopfbedeckung, und sei es auch nur ein ausgefranster, in Auflösung begriffener Strohhut oder ein zerlumpter Schal, den sie sich um den Kopf geschlungen hatten.
Lily trat zu dem schmiedeeisernen Tor der Passage und spähte hindurch. Dahinter konnte sie bauchige glänzende Glasscheiben sehen, hinter denen die herrlichsten Dinge auslagen: Börsen und Handtaschen aus weichem Leder, Pelzkragen, edles Porzellan, Schmuck, Parfums, Seifen und Cremes. Mama hatte auch einen echten Pelzmantel besessen, erinnerte sich Lily, und reizende Kleider, doch diese Dinge waren seit Jahren schon fort.
Um halb acht wurden die Tore von zwei livrierten Männern geöffnet, die versuchten, die Schar der hoffnungsvollen Päckchenträger zu verscheuchen, indem sie verkündeten, dass bereits ein paar bullige Polizisten unterwegs seien, um den ganzen Haufen wegen Bettelns zu verhaften. Die Ängstlicheren unter ihnen, darunter auch Lily, ließen sich davon einschüchtern und hielten sich ein wenig im Hintergrund, doch es kamen gar keine Polizisten, und so folgte Lily nach einer Weile den anderen in die von Arkaden überwölbte Passage. Dort entdeckte sie, dass es zwei Ausgänge gab und am anderen Ausgang ebenfalls eine Schar von Kindern gewartet hatte. So standen nun vor den meisten Ladentüren bereits zwei Kinder bereit, vor den großen Kaufhäusern sogar drei.
Lily schlenderte die Passage entlang und tat so, als sehe sie sich bloß die Schaufenster an, während sie in Wirklichkeit nach einem Geschäft Ausschau hielt, vor dem vielleicht nur ein Kind wartete. Sie fand auch eines, ein Herrengeschäft für Rasierbedarf, doch davorstand ein stämmiger Bursche von ungefähr siebzehn Jahren, der feindselig um sich blickte und die großen Hände bereits zu Fäusten geballt hatte. Lily wagte nicht, ihn anzusprechen, und so ging sie zum Ende der Passage weiter und dann wieder zurück. Sobald sie allerdings ihren Schritt auch nur ein wenig verlangsamte, wurde sie sofort von den anderen Kindern, die ihren Platz vor den Ladentüren eingenommen hatten, angefaucht oder in unmissverständlichen Worten aufgefordert, sich sonst wohin zu scheren.
Vielleicht würde es ja besser, wenn die Käuferinnen erschienen, hoffte sie, doch sie glaubte sich zu erinnern, dass so feine Damen eigentlich nie vor elf Uhr aufstanden, den Vormittag mit dem Anlegen ihrer Kleider verbrachten und sich erst einmal die Haare machen ließen, bevor sie sich am Nachmittag für einen kleinen Einkaufsbummel und ihre Besuche und Erledigungen außer Haus wagten. Und normalerweise hatten sie doch ihre Dienstmädchen dabei, und würden dann nicht
die
die Einkäufe tragen? Lily wagte schließlich, ein kleines Mädchen von etwa acht Jahren anzusprechen und zu fragen, ob sie neben ihr warten und auch ihr Glück versuchen dürfe, doch das Mädchen fuhr sie an wie eine wildgewordene Katze: Das sei
ihr
Platz, sagte sie, den sie sich hart erkämpft habe, und sie würde jeden umbringen, der ihn ihr streitig machen wolle, und so zog sich Lily zurück.
Sie verließ Piccadilly und ging in Richtung derStraße
Strand
weiter, um vor dem, wie es sich nannte, größten Stoffhaus Londons ihr Glück zu versuchen, doch hier herrschte ein ganz ähnliches System, das eine Bande von Burschen kontrollierte. Sie gaben Lily zu verstehen, dass sie hier niemals ein Päckchen zu tragen bekäme, solange einer von ihnen noch auf zwei Beinen stand. Und so erging es Lily bei jedem Geschäft oder Kaufhaus, dem sie sich näherte, so dass sie am Abend genau so nach Seven Dials zurückkehrte, wie sie am Morgen von dort aufgebrochen war: mit leeren Händen.
»Wie ist es dir ergangen?«, fragte Grace gespannt. Auch sie hatte einen schlechten Tag gehabt. Brunnenkresse war zwar seit jeher eine beliebte Beilage zu einem Abendessen aus Brot und Käse, doch unter den momentanen Umständen war sie den meisten Londonern schlichtweg zu teuer, und so verzichteten sie eben darauf.
Lily schüttelte traurig den Kopf. »Aber
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