Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
hübsches Gesicht Passanten des Öfteren dazu bewog, ihr etwas abzukaufen, hatte Lily kein solch gewinnendes Äußeres. Sie hatte die dunklen rotbraunen Locken ihrer Mutter geerbt, dazu aber leider das eckige Kinn und die tiefliegenden Augen ihres Vaters. Ihre Mutter hatte einst ein kleines Porträt von Graces und Lilys Vater gemalt und neben ihrem Bett stehen gehabt, und oft hatte sieangemerkt, wie sehr Lily ihm ähnelte. Das Porträt war allerdings über die Jahre verloren gegangen, wie so viele von ihren Andenken!
Grace hatte inzwischen Mamas Hochzeitshut und -schleier verpfändet, sodann ein Kissen und zwei Decken in einem »Dollyshop« versetzt – so hießen die inoffiziellen Pfandleihen und Trödelläden, die in dem von Armut heimgesuchten Viertel allerorten aus dem Boden schossen.
»Wir kommen problemlos mit einer Decke aus«, hatte sie zu Lily gesagt. »Und wenn es richtig kalt wird, laufen die Dinge ja vielleicht schon wieder besser für uns.«
»Und dann können wir uns neue Decken kaufen!«, hatte Lily fröhlich zugestimmt. »Oder vielleicht kommt ja Papa zurück.«
Grace hatte nicht darauf geantwortet. Sie fand es nicht richtig, Lily in diesem Gedanken zu bestärken, und Grace für ihren Teil hatte jedenfalls schon längst aufgehört, auf Papas Rückkehr zu hoffen. Selbst durch den Verkauf der Sachen war es ihr nicht gelungen, das Mietgeld für die kommende Woche beiseitezulegen, und das war eine weitaus drängendere Sorge als die um einen Mann, der womöglich gar nicht mehr lebte.
Nachdem Mrs Beale gegangen war, blickte sich Grace im Zimmer um. Was könnte sie noch versetzen, um sich und ihre Schwester vor dem Verhungern zu bewahren? Ob sie wohl ohne Schuhe auskämen?Sie seufzte. Manche konnten das – der Jüngste von den Cartwrights zum Beispiel, ein kleiner Kerl von ungefähr sechs Jahren, schien weder Schuhe noch Kleider sein Eigen zu nennen, denn er war nur außer Haus anzutreffen, wenn einer seiner Brüder
im
Haus war. Einmal, als ihn seine Mutter geschickt hatte, um von Grace eine Scheibe Brot zu erbitten, hatte er mit nichts weiter als einem alten, um die Hüfte geschlungenen Schal vor ihrer Tür gestanden. Nach kurzer Überlegung kam Grace zu dem Schluss, dass sie auf ihre Unterröcke und ihr letztes Kissen wohl noch verzichten konnten, nicht aber auf ihre Schuhe.
Sie spähte zu den beiden kleinen weißen Kärtchen hinüber, die immer noch auf dem Kaminsims standen. Der Gedanke, um Almosen bitten zu müssen, war ihr abscheulich, doch wenn es nicht mehr anders ging, würde sie es tun. Alles, nur nicht im Arbeitshaus enden. Und sie wusste, es gab noch schlimmere Schicksale: Neulich hatte sie, unfähig, den Blick abzuwenden, mit schauriger Faszination die traurigen jungen Frauen angestarrt, die in den Slums rund um die Monmouth Street dem ältesten aller Gewerbe nachgingen … Mädchen mit strähnigem Haar, Schürfwunden und blauen Flecken auf der Haut und einem abgrundtief hoffnungslosen Ausdruck in den Augen. Oh, hoffentlich, so betete Grace im Stillen, hatte der liebe Gott sie nicht ganz vergessen und ersparte ihr und ihrer Schwester zumindest solch ein Schicksal.
Während Grace sich mit Mrs Beale unterhielt, stand Lily mit Alfie Pope auf einem gepflasterten Hof an der Oxford Street und schaute einem Magier bei seiner Vorstellung zu. Der Platz wimmelte von Leuten, denn rundum befanden sich mehrere gut besuchte Läden, zwei Obststände mit bester Ware, eine Schiffsschaukel, wie man sie auf Jahrmärkten findet, und eben, in diesem Augenblick, der Magische Marvo. Vor ihm hatte sich eine Menschenmenge versammelt, in der auch der Herr mit dem Hund stand.
»Schau mal, siehste den Hund da?«, raunte Alfie ihr zu. »Den Beagle?« Er fasste Lily am Arm und zeigte auf den kleinen braun-weißen Terrier, der geduldig neben seinem Besitzer auf dem Kopfsteinpflaster stand. »Der is nämlich entlaufen, weißt du. Du brauchst ihn bloß zu holen und da hinten übern Zaun zu reichen.« Er zeigte darauf. »Da wartet mein Bruder Billy. Der nimmt dir das Hündchen ab und kümmert sich drum, dass es zu seinem rechtmäßigen Besitzer zurückkommt.«
Lily runzelte die Stirn. Sie war müde, nachdem sie den ganzen Tag auf der Straße nach leeren Flaschen gesucht und gerade mal einen Penny verdient hatte, und sie sehnte sich danach, zu Grace zurückzukehren. »Bist du sicher, dass er entlaufen ist?«, fragte sie Alfie. »Der Mann da hat ihn doch an der Leine.«
»Das is nicht sein richtiger Besitzer«,
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