Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
sich die beiden Mädchen auf den Rückweg zu Mrs Macreadys Mietshaus. Grace hatte es eilig, denn sie hatte noch etwas Wichtiges vor. Der Winter kündigte sich bereits an, und eines der zwei kleinen Fenster in ihrem Zimmer war zerbrochen. Grace hatte vor, an einem Gemüsestand in Neal’s Yard eine alte Holzkiste zu erbitten und sich von einem der Straßenhändler aus der Etage über ihnen Hammer und Nägel auszuleihen, um das zugige Loch im Fenster mit Holzbrettern zu verschließen. Dann wäre es zwar noch dunkler in ihrem kleinen Zimmer – die Häuser gegenüber standen nämlich so nah, dass kaum Tageslicht in die Gasse drang –, doch immer noch besser, im Dunkeln zu sitzen als in der Kälte. Und kalt würde es werden in den kommenden Monaten, denn da sie nun nichts mehr besaßen, was sie noch versetzen konnten, mussten sie den Winter ohne Brennholz und Kohlen überstehen.
Als sie sich der Gasse näherten, in der sie wohnten, und Mrs Macreadys Haus bereits in Sichtweite war, fiel Grace die ungewöhnliche Menschenansammlung im Viertel auf – nicht nur die üblichen herumspringenden Kinder, Hausierer, Kesselflicker, fliegenden Händler und Hausfrauen auf dem Weg zum oder vom Markt, sondern auch Arbeiter in Kleidern aus blauem Serge und zwei oder drei Männer in dunklemAnzug und Zylinder. Sie wandte sich Lily zu, um sie darauf aufmerksam zu machen, doch diese war bei einem Schausteller stehen geblieben, der ein Kätzchen zusammen mit einem jungen Hündchen in einem Käfig hielt – eine der »Happy Families«, die sich seit kurzem großer Beliebtheit erfreuten, Kätzchen zusammen mit Mäusen oder jungen Enten oder Katzen und Hunde im selben Käfig. Kaum dass Lily allerdings ihr Interesse gezeigt hatte, wurde auch schon das Tuch über dem Käfig heruntergelassen, und der Händler verlangte einen Halfpenny, wenn sie die Tiere noch einmal sehen wollte.
Lily eilte zu Grace zurück. »Bloß einen Halfpenny!«, bettelte sie. »Bloß einen Halfpenny, um das süße Kätzchen und Hündchen zusammen spielen zu sehen.«
Grace schüttelte den Kopf. Sie brannte darauf, zu erfahren, warum so viele Leute in ihrem Viertel waren. Sie reckte den Kopf, um die Gasse entlangzusehen. Was war da los im Brick Place?
»Und du kannst sie dann auch sehen, gleichzeitig!«, bettelte Lily weiter.
»Und sogar streicheln, Miss, für einen klitzekleinen Aufpreis!«, rief der Schausteller, ein hagerer Mann in einem mit Draht zugeschnürten Mantel.
»Tut mir leid, es geht nicht. Lily, komm jetzt bitte!« Grace scheuchte den Mann mit einer resoluten, allerdings nicht unhöflichen Geste weg, denn sie wusste ja, dass auch er nur wie alle in Londonversuchte, das nötige Geld zum Überleben aufzutreiben.
Lily trennte sich widerwillig von den Tieren, gesellte sich zu ihrer Schwester und schaute dahin, wo Grace so angespannt hinstarrte. »Was ist denn da los? Warum hat unser Haus Bretter vor den Fenstern?«
Sie näherten sich Mrs Macreadys Mietshaus. Es war das zweite in einer Reihe von vier aneinandergebauten Häusern, die alle in einem ähnlich heruntergekommenen, reparaturbedürftigen Zustand waren: Zwei hatten keinen Kamin, an mehreren fehlten die Fensterscheiben oder waren die Fensterrahmen zerbrochen, und bei einem fehlte sogar die komplette Haustür. Mrs Macreadys Haus wies außerdem einen enormen Riss im Mauerwerk auf, der diagonal von oben bis unten verlief. Diese vier baufälligen Häuser wurden soeben verrammelt und sämtliche Öffnungen mit dicken Holzplanken zugenagelt, so dass ein Betreten nicht mehr möglich war.
»Was machen die da?«, fragte Lily. »Wie kommen wir denn jetzt hinein?« Beim Gedanken an die paar wertlosen Dinge in ihrer Zigarrenschachtel fing sie an zu weinen. »Ich will meine Schätze wiederhaben!«
»Warte hier«, wies Grace sie an. »Du rührst dich nicht von der Stelle, verstanden?« Dann ging sie auf einen Mann zu, der der Vorarbeiter zu sein schien: Er hatte einen Stapel von Papierkram auf dem Arm und trug den größten Zylinder. »Wir wohnen hier, meine Schwester und ich … «, fing sie an.
»Jetzt nicht mehr«, entgegnete der Mann und befand es nicht einmal für nötig aufzublicken.
Grace fuhr der Schreck in sämtliche Glieder. »Aber was geschieht denn hier? Wir haben doch unsere Miete bezahlt, wir schulden niemandem etwas, wir haben nichts Unrechtes getan –«
Der Mann drückte den Papierstoß an seine Brust und blickte Grace zum ersten Mal an, so überrascht war er von ihrem
Weitere Kostenlose Bücher